Vom 16. bis 20. September ging in Leipzig bereits zum 13. Mal die Filmkunstmesse über die Bühne. Für das Publikum hatten die Festivalplaner knapp 40 Filme im Programm, von denen der in Cannes siegreiche Eröffnungsfilm „Blau ist eine warme Farbe“ (OT: La vie d'Adèle) natürlich heraus stach. Die weiteren Hochkaräter versammelten sich dann wie üblich im nichtöffentlichen Teil des Programms, zu dem lediglich Kinobetreiber, nur in Ausnahmefällen Journalisten und definitiv kein öffentliches Publikum Zugang hat. Dort liefen dann beispielsweise der neue, bereits als heißer Oscar-Kandidat gehandelte Film von Steve McQueen („Shame“) namens „Twelve Years a Slave“, der Sundance-Abräumer „Fruitvale Station“ oder das Ein-Personen-Stück „All Is Lost“, der zweite Film von „Margin Call“-Regisseur J.C. Chandor, mit Robert Redford in der Hauptrolle.
Los ging es Montagabend also mit „Blau ist eine warme Farbe“, dem Drei-Stunden-Epos über eine junge lesbische Liebe, die in Cannes in vielerlei Hinsicht für Furore gesorgt hatte. Nicht nur wurde der Film mit exzellenten Kritiken bedacht, er sorgte auch für eine Premiere: Zum ersten Mal in der Geschichte des traditionsreichen Festivals wurden neben Regisseur Abdellatif Kechiche auch die beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux (vollkommen zurecht) mit der Goldenen Palme geehrt. Und da wären natürlich noch die Diskussionen – über die äußerst freizügigen, wahnsinnig intimen und in der Dauer verhältnismäßig ausschweifenden Sexszenen – die ein wenig wie aus der Zeit gefallen wirken. Dass die Darstellung von Sex außerhalb pornografischer Werke heutzutage noch zum Skandal reicht, ist schon verwunderlich.
Skandalös ist allenfalls die kaum in Worte zu fassende Leistung der beiden mutigen Schauspielerinnen, denen die Kamera in jeder Sekunde im Gesicht oder am entblößten Körper klebt. Speziell das Gesicht von Adèle ist ständig bildausfüllend, was im Zusammenhang mit dem glaubwürdigen Spiel von Exarchopoulos zu einer – eben auch räumlichen – Nähe zur Figur führt, wie man sie selten erlebt.
Für jene Adèle bedeutet die Schulzeit einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben, als sie entdeckt, dass sie Frauen liebt, und dass ihr direktes Umfeld wenig Toleranz dafür aufbringt. Im Kern ist das jedoch kein Film, der sich explizit Homosexualität zum Thema genommen hat, sondern einer, der sich dem Erwachsenwerden widmet, der ersten Liebe und in jenem Fall eben auch der Magie von Liebe auf den ersten Blick.
Mit seinen drei Stunden verlangt „Blau ist eine warme Farbe“ ordentlich Sitzfleisch. Und wenn man sich nicht darauf einlassen kann, dass Szenen sich in aller Ruhe entwickeln, dann wird man sich vielleicht auch phasenweise langweilen. Doch eben diese langen Szenen, darunter auch die minutenlangen Sexszenen, verleihen dem Film jene Authentizität, die andere Filmemacher selten erreichen.
Auf allzu offensichtlichen Storypfaden trampelt Regisseur Kechiche dabei nicht herum – so spielen die Reaktionen von Adèles Mitschülerinnen, in dem Fall sogar lediglich begründet auf einem Verdacht, beispielsweise nur einmal eine Rolle. An Tragik mangelt es „Blau ist eine warme Farbe“ wahrlich nicht – trotzdem fühlt es sich an wie eine Ode ans Leben, in all seiner Vielfalt.
Erwachsenwerden, erste Liebe – das gab es in diesem Jahr auf der Filmkunstmesse einige Male zu sehen. In „Jung & Schön“ etwa erzählt Frankreichs Starregisseur Francois Ozon von einer 17-jährigen Teenagerin (Marine Vacht), die sich nach einem unbefriedigenden ersten Mal in die Hotelzimmer älterer Männer begibt und sich für Sex bezahlen lässt. Anders ausgedrückt: Eine Minderjährige prostituiert sich. Was auf dem Papier reichlich heikel und provokativ klingen mag, kommt in Anbetracht der Thematik letztlich sehr unverkrampft daher. Ozon spart sich den erhobenen Zeigefinger, nicht aber den Humor, der viele Momente mal sehr deutlich, mal dezent durchzieht. Überhaupt bleibt vieles unausgesprochen, werden Motive und Bedürfnisse zahlreicher Charaktere nur angedeutet.
Auch „Ganz weit hinten“ (OT: The Way Way Back) ist der Kategorie Coming-of-Age-Film zuzuordnen, setzt aber ganz andere Schwerpunkte und ist in dieser Hinsicht auch deutlich klassischer und konventioneller. Hier geht es um den 14-jährigen Duncan (Liam James), extrem introvertiert und mit seiner Mutter (Toni Collette), seinem Stiefvater (Steve Carell) und dessen Tochter auf dem Weg in die Sommerresidenz. Dort macht er nicht nur Bekanntschaft mit der Nachbarstochter (Anna Sophia Robb), sondern auch mit den Mitarbeitern eines Wasser-Vergnügungsparks, allen voran Owen (Sam Rockwell).
Über zwei Drittel seiner Zeit macht „Ganz weit hinten“ ganz viel Spaß, ist teilweise brüllend komisch, hat phantastisch geschriebene Dialoge und schrullig-liebenswürdige Figuren. Sam Rockwell stiehlt dabei erwartungsgemäß allen anderen gehörig die Schau. Mit zunehmender Dauer tritt jedoch immer deutlicher zu Tage, was einem die ganze Zeit über schon dämmert: Dass es sich hierbei um einen extrem formelhaften amerikanischen Indiefilm handelt.
Lange Zeit hemmt das den Spaß nur minimal, doch gegen Ende folgt „Ganz weit hinten“ exakt dem Spannungsbogen, mit dem man schon aus zahlreichen anderen US-Indiehits vertraut ist: die übliche katastrophale Zuspitzung, die üblichen positiven emotionalen Höhepunkte – alles jeweils nicht so wirklich nah am realen Leben.
Ein anderer amerikanischer Indiefilm kommt da schon origineller daher: „Prince Avalanche“ von David Gordon Green erzählt von Einsamkeit und Langeweile. Für den einen – Alvin (Paul Rudd) – ist ersteres nichts Schlimmes, er genießt sie. Für den anderen – Lance (Emile Hirsch), der Bruder von Alvins Frau – bedeutet erstere vor allem letztere. Tag ein, Tag aus, verpassen sie Straßen im amerikanischen Nirgendwo einen neuen Anstrich, die meiste Zeit über allein. Nur einmal kommt ein abgehalfterter Trucker vorbei und lässt Selbstgebrannten da. Es ist die Geschichte zweier ungleicher Männer, die irgendwie miteinander zurecht kommen (müssen), sich aber die meiste Zeit über gegenseitig langweilen. Doch dann bringt ein Brief von Alvins Frau alles durcheinander.
Alvin und Lance sind nicht die klassischen Sympathieträger, doch so wie sie selbst sich miteinander arrangieren müssen, lernt man auch als Zuschauer sie zusehends besser kennen und verstehen. „Prince Avalanche“ schwankt zwischen Melancholie und Humor, der mal subtil, mal grenzwertig brachial daher kommt. Grundsätzlich ist hier aber alles geregelt, der Alltag folgt stets seinem Trott. Das ist auf charmant-unspektakuläre Weise sehenswert – seinen größten Moment feiert der Film aber, als sich die beiden „Helden“ hemmungslos besaufen und an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt zumindest ein einziges Mal alle Regeln über den Haufen werfen.
Außerdem im Programm: „Es war einmal ein Regenwald“ ist die neue Naturdokumentation von Luc Jacquet, der 2005 mit „Die Reise der Pinguine“ einen überwältigenden Erfolg feierte. Sein neuer Film widmet sich der Flora und Fauna der gewaltigen Regenwaldreiche, zeigt faszinierende Zusammenhänge auf und brilliert erneut mit atemberaubenden (Detail-)Aufnahmen. Gewöhnungsbedürftig sind die zahlreich eingestreuten Animationen, die etwa die Entstehung von Bäumen im Zeitraffer zeigen. Mit echtem Filmmaterial hätte Jacquet selbstverständlich Jahrzehnte drehen müssen, um dies zeigen zu können.
Den Publikumspreis der Filmkunstmesse erhielt Daniel Harrichs „Der blinde Fleck“, in dem Benno Fürmann einen Journalisten des Bayerischen Rundfunks spielt, der anlässlich des Oktoberfestattentates 1980 mit 13 Toten recherchiert. Er hat wenig Vertrauen in die Darstellung der Ermittlungsbehörden, dass es die unpolitische Tat eines Einzelnen gewesen sein soll, und spricht mit Anwälten, Zeugen, anderen Journalisten und Verwandten.
Auch dank dieses Films wird dieser umstrittene Fall wohl neu aufgerollt. Und er zeigt auch, dass die Blindheit auf dem rechten Auge schon weit vor die NSU-Morde zurückreicht. Unabhängig davon, dass dem Film einige faktische Hintergründe mehr und etwas Hektik weniger gut getan hätte, ist das ein informatives Stück über mutigen Journalismus und unfassbares Fehlverhalten.
Der einzig wirklich misslungene Streifen, der dem Rezensenten während der fünf Tage vor die Augen kam, heißt „Killing Time“ des rumänischen Regisseurs Florin Piersic Jr., der darin auch gleich einen der beiden Auftragskiller spielt, die in einer Wohnung auf ihr Ziel warten. Und sie warten lange. Und sie verstehen sich nicht wirklich gut. Die Mängelliste ist lang: So wie für die Protagonisten das Warten wird „Killing Time“ für den Zuschauer zur Geduldsprobe. Die Szenen ziehen sich ewig, ohne aber – wie bei „Blau ist eine warme Farbe“ - dabei sonderlich viel zu vermitteln. Sichtbar Geld gekostet hat dieser Film nicht, denn alles, was man sieht, sind lange monotone Einstellungen ohne jegliche Gestaltungskraft und viel,e viele weiße Wände.
„Killing Time“ wirkt nicht wirklich in irgendeiner Hinsicht wie inszeniert, eher so, als sei hier zufällig ein Homevideo entstanden. Wohlwollend mag man diesen fast dokumentarischen Stil als ganz bewusst gewählt auslegen, auch, um dem Auftragskiller das Stylishe, das Coole zu nehmen. Florin Piersic Jr. entmystifiziert einen „Berufszweig“ - mittels eines durch und durch langweiligen Films.
Bleibt der Abschlussfilm am späten Freitagabend, und der hatte es noch einmal in sich: „Computer Chess“. Setzt man sich ohne jede Information in den Kinosessel, scheint schnell klar, worum es sich dabei handelt: Eine Schwarz-Weiß-Dokumentation im 4:3-Format, gedreht in den 80ern, auf einem Kongress, bei dem verschiedene Superhirne aufeinander treffen. Genauer gesagt: Von ihnen programmierte Computerprogramme beim Schachspielen aufeinander treffen lassen. Eine Sache für Schach- und Computernerds also. Doch nach einigen Minuten kommt man ins Grübeln.
Wie kommt es eigentlich, dass die Personen nie in die Kamera schauen, obwohl alles auf engstem Raum stattfindet? Und wieso verhalten sie sich zunehmend merkwürdiger? Wenn dann eine Gruppe von Spirituellen versucht, ein junges Schachgenie zu vernaschen, und Katzen in großem Ausmaß die Zimmer des Hotels belegen, wird klar, dass es sich hierbei mitnichten um eine Doku handelt, sondern um eine sehr absurde, sehr groteske, und in dieser Form wohl auch noch nicht dagewesene Komödie. Das ist manchmal etwas zäh, dreht aber gegen Ende immer mehr Richtung ungläubiges Gelächter ab. David Lynch hätte an diesem surrealen Werk sicher seine Freude.
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