Das Filmszene-Tagebuch zu den 67. Internationalen Filmfestspielen von Venedig

von Patrick Wellinski / 7. Oktober 2010

Das Filmszene-Tagebuch zu den 67. Internationalen Filmfestspielen von Venedig Vom 01. bis zum 11. September gastiert die Filmwelt in der italienischen Lagunenstadt und genießt zu mediterraner Sonne erstklassiges Kino. Und dieses Jahr ist zum ersten Mal auch Filmszene.de mit vor Ort. Unser Redakteur Patrick Wellinski berichtet täglich von den neuesten Ereignissen und wichtigsten Filmen des Festivals.

Ein Festival voller Favoriten

Der Wettbewerb ist zu Ende. Am Samstag werden die Preise verliehen. Die letzten Beiträge pendelten zwischen großartig und schrecklich. Tom Tykwer kehrt zu seinen Wurzeln zurück, Takashi Miike versucht sich am Samuraifilm und zum Abschluss gab es noch einen Film über das Vergessen.

Applaus. Die Italiener wissen die Kunst zu würdigen und so wird hier vor, während und nach jedem Film geklatscht. Manchmal euphorisch, manchmal skeptisch und manchmal beleidigt. Dann mischen sich auch kräftige Buh-Rufe dazwischen. Wenn zum Beispiel der Produktionstrailer von Berlusconis Medusa Films vor einem Film eingeblendet wird, dann muss man nur auf das Erlöschen des letzten Tons warten und schon hört man die empörten Pfiffe und Buhs aus dem dunklen Kinosaal. Daher ist der Applaus in Venedig mitnichten ein Zeichen dafür, dass der Film hier gut ankommt. Hier wird alles beklatscht, hier klatscht selbst der Hausmeister nachdem er durch die Reihen gewischt hat. Wenn man dann in deutschen Festivalberichten liest, ein Film sei beklatscht worden, dann sollte dem daheimgebliebenen Leser einfach vor Augen geführt werden, dass das hier nichts heißt.

Auf den Spuren von David Lynch

Euphorisch ging es auch noch vor der Vorstellung von Monte Hellmans Film "Road to Nowehre" zu. Journalisten ließen jedwede Zurückhaltung und Professionalität auf der Stelle sausen, als Jury-Präsident Quentin Tarantino den Saal betrat (Die Jury sieht die Filme hier meist bei der Galavorstellung am Abend). Journalisten wurden so zu johlenden Fans und Groupies. Kein besonders würdevoller Moment.

Hellmans Streifen wiederum ist hier auf dem Lido das große Rätsel. In seinem ersten Spielfilm seit 21 Jahren erzählt einer der Väter des US-Indie-Kinos seine Geschichte als Film im Film im Film im Film. Und wahrscheinlich hat dieses Werk noch weitere Ebenen, die man bei der ersten Sichtung noch nicht dechiffrieren kann. Atmosphärisch gleicht der Film David Lynchs Meisterwerk "Mullholland Drive". Hellman, der mit "Two Lane Blacktop" eines der absoluten Meisterstücke des amerikanischen Kinos der 70er Jahre drehte, ließ hier in Venedig viele ratlos zurück.
Die Story zeigt einen Regisseur, der mit einer Amateurin einen Spielfilm dreht. Doch die Filmarbeiten mutieren allmählich zu einem Kriminalfall. Man kann "Road to Nowehre" als Abrechnung mit dem Hollywoodsystem sehen. Des Öfteren inszeniert Hellman einzelne Pistolenschüsse und spiegelt sie in den Erzählebenen. Er scheint die Perversion des Filmemachens erschießen zu wollen. Aber es sind noch mindesten zwanzig weitere Interpretationen möglich - wer weiß, ob "Road to Nowhere" nicht vielleicht schon die Lösung in seinem Titel versteckt hat.

Gutes Kino, schlechtes Kino

Wesentlich einfacher und schnörkelloser inszeniert der japanische Exzentriker Takashi Miike seinen wundervollen Samuraifilm "13 Assassins". Im Japan der Shogun-Ära werden 12 Samurais (und ein Dieb) angeheuert, um einen Fürsten zu ermorden. Die erste Stunde nutzt Miike, um die Samurais ernsthaft über ihren Kodex und ihre Ehre diskutieren zu lassen. Um dann in der zweiten Stunde ein hervorragend komponiertes Schwertkampf-Gemetzel auf die Beine zu stellen. So unterhaltsam, kurzweilig und enorm effektiv kann Kino sein. Fazit: Massacro Totale.

Ein Massaker der schlechtesten Sorte liefert der letzte italienische Beitrag "La soltudine die numeri primi" von Saverio Constanzo. Dieses Machwerk tötet im wahrsten Sinne des Wortes jedwede Lust dieser dämlichen Inszenierung zu folgen. Es soll wohl ein Film über die Einsamkeit zweier Menschen sein, die sich schon seit der Jugend kennen, aber nicht zusammen kommen können (Warum, das kann man nicht sagen, weil man es beim besten Willen nicht versteht). Das alles wird noch unnötigerweise in drei Zeitebenen erzählt, die sich gegenseitig bebildern und keinen Platz für Zwischentöne lassen. Bilder von Nebel, Wald und Magersucht. Fazit: Hat auf einem Festival nichts zu suchen.

Auch Deutsche unter den Opfern

Ob Tom Tykwers erster deutscher Film seit "Der Krieger und die Kaiserin" auf einem internationalen Festival etwas zu suchen hat, ist die Frage, die sich bereits während des Films stellt. Doch im Gegensatz zu "La solitudine ..." ist der Denkansatz hier ein anderer. Tykwer erzählt in "Drei" die Geschichte dreier Berliner, die sich in eine erotische Menage à trois begeben. Visuell entfernt sich Tykwer damit deutlich von seinen Blockbustern à la "The International". Sein neuer Film verfügt über wunderbar skurrile und manchmal sogar surreale Augenblicke und besticht in erster Linie mit einer schnellen und effektiven Splitscreen-Ästhetik, die man schon so ähnlich aus "Lola rennt" kennt.
Doch im Gegensatz zu seinem großen Durchbruch ist "Drei" wesentlich inkonsequenter, was nicht unbedingt bedeutet, dass er schlecht sein muss, da Tykwer wohl etwas Größeres im Sinn hat. Er zeigt eine deutsche Gesellschaft, die sich hinter pseudokulturellen und intellektuellen Diskursen versteckt und dabei nicht weiß, was sie eigentlich will. Sprache und Sprechduktus erhalten in "Drei" neben der formalen Ebene eine eigene Bedeutung und entwickeln ein Eigenleben: Texte von Spinoza, Ethikdiskussionen über das Verlorensein, die Gentechnik und den Tod. Sophie Rois spielt hier die weibliche Hauptrolle und bringt den Film auch auf die geistige Ebene eines zeitgenössischen Theaterstücks.
Dennoch: Bei Tykwer - und das macht ihn so groß - sind alle Bilder Film. Sie atmen förmlich das Kino und seine Geschichte. Wenn man genau hinsieht erkennt man Zitate aus Kubrick-, Bergmann- und Wenders-Filmen. "Drei" ist ein in aller Hinsicht vielfältiges Werk geworden, das einen in Venedig noch etwas ratlos zurücklässt. Es ist wie bei Hellman's "Road to Nowhere": entweder Tykwer ist sich der spielerischen und hintergründigen Herangehensweise bewusst, dann ist "Drei" ein Meisterstück; wenn er das Ganze allerdings ernst meint, ist sein Film ein Flop.

Zum Abschluss ein Wunsch: Löwinnen

Der Abschlussfilm des Festivals ist Richard J. Lewis' "Barney's Version" in dem Paul Giamatti einen Filmproduzenten spielt, der ständig auf der Suche nach der wahren Liebe ist. Als er sie dann nach der dritten Hochzeit gefunden hat, begeht er einen Fehler, der ihm alles kaputt macht. Das ist ein netter Film, einer mit einem tollen Dustin Hoffmann als emeritierten jüdischen Cop, der im Bordell stirbt. "Barneys Version" zeigt, wie Barney der Alzheimer befällt und ihm auch noch das Letzte nimmt, was er von seiner großen Liebe hat: Die Erinnerung. Ein Film über das Vergessen beschließt also die 67. Mostra, die man alles andere als vergessen sollte.

Wer hier gewinnen wird, ist kaum zu sagen. Die Jury um Quentin Tarantino kann viele Entscheidungen treffen. Wenn man ein politisches Statement setzen will, dann müssten die Preise an "Venus Noire" und "The Ditch" gehen. Wenn man das Kino als pure und kurzweilige Unterhaltungskunst ehren möchte, dann empfehlen sich die Werke von Tsui Hark, Alexis de la Iglesia und natürlich auch Francois Ozon. Oder man beschließt der Welt mitzuteilen, dass das amerikanische Independent-Kino fantastische junge Autoren hervorgebracht hat. Die Konsequenz: Löwen an Coppola und Reichardt. Löwen an Frauen. Das wäre ideal.

Mehr Informationen auf der offiziellen Website www.labiennale.org/en/

 

Mittwoch, 08.09.2010

Ein bisschen Frieden

Da der Wettbewerb so stark ist, kommen die Nebenreihen in Venedig etwas zu kurz. Und tatsächlich sind die Filme in der "Orizzonti" und "Venice Days"-Reihe nicht unbedingt so stark, wie man sie erwarten würde. Doch die Kurzfilme einiger Kinomeister machen das manchmal vergessen.

Was der iranische Regisseur Jafahr Panahi dieses Jahr durchmachen musste, konnte man fast allen Zeitungen entnehmen. Seinen Leidensweg kann man gut an den jeweiligen Festivals festmachen. Im Februar sollte er auf der Berlinale Gast einer Podiumsdiskussion sein. Der Iran verweigerte ihm jedoch die Ausreise und nahm Panahi fest. Im Mai sollte er Mitglied der Wettbewerbsjury in Cannes sein, war aber im Gefängnis eingesperrt und trat in den Hungerstreik. Daraufhin wurde während des Festivals kräftig protestiert. Die Tränen, die Juliette Binoche vergoss, waren vielleicht das eindrucksvollste Zeichen dieses Aufschreis der Branche. In Venedig wird nun Panahis Kurzfilm "Akkordeon" gezeigt. Der Regisseur ist nicht an den Lido gekommen, weil er im Iran immer noch unter Hausarrest steht. Immerhin wurde er mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen.
"Akkordeon" gehört zu den erfüllendsten Erfahrungen, die man hier auf dem Festival im Kino machen konnte. Es ist die Geschichte eines Geschwisterpaars, das durch die Straßen Teherans zieht und versucht mit Musik Geld zu verdienen. Das Akkordeon wird ihnen von einem Mann entrissen. Den Bruder bringt das zur Weißglut. Er will den Dieb erschlagen. Den Stein in seiner Hand zeigt Panahi in einer bedrohlichen Nahaufnahme. Am Ende dieses Sechsminüters stehen alle drei gemeinsam am Brunnen, singen und spielen. Alle drei sitzen im selben Boot. Nichts ist gut im Iran, wenn die Ärmsten sich gegenseitig beklauen. Damit stellt Panahi eindrücklich unter Beweis, dass seine Filme gebraucht werden. Hoffentlich kann er irgendwann wieder ungehindert arbeiten.

Im künstlerischen Nirgendwo

Enttäuschend an einigen der Beiträge in der "Venice Days"-Reihe ist vor allem ihre dramaturgische Inkonsistenz. Außerdem lassen Filme wie "Happy Poet" von Paul Gordon (USA) oder "Hitparzut X" von Eitan Zur (Israel) jeglichen ästhetischen Mut vermissen und begnügen sich damit, belangloses Arthauskino zu sein. Paul Gordon spielt in seinem eigenen Film die Hauptrolle. Lethargisch und ausdruckslos verkörpert er darin einen Gedichte schreibenden Hardcore-Veganer, der beschließt, aus einem öden Hotdog-Stand ein Gaumenschmausparadies für Fleischverweigerer zu machen. Doch erst als sein Bekannter ihm hilft, den Humus, die Pitas und den eierlosen Eiersalat auszuliefern, beginnt das Geschäft zu florieren. Dabei weiß der happy Poet nicht, dass sein Kumpel mit dem Bioessen auch noch Marihuana verkauft.
Der Film besteht auf die lustige Dopplung, die bereits im Titel versteckt ist. Doch das funktioniert nicht. Amerika ist in diesem Film, so wie es gerne wäre: grünes Essen, grünes Dope. Alles OK, alle sind happy. Aber nicht der Zuschauer, der gerne etwas mehr gesehen hätte. Eines macht Gordons harmloser Selbstversuch allerdings deutlich: "State of the art" des US-Indie-Kinos sind momentan Coppola, Reichardt und Gallo. Und die findet man zurecht im Haupt-Wettbewerb.
"Hitparzut X" sieht nicht viel besser aus. Ein dicker Astronom tötet den Liebhaber seiner viel zu jungen Frau und plant mit seiner viel zu fürsorglichen Mama, wie man die Leiche loswerden könnte. Dann schweigen sich die Leute 'ne ganze Weile an, fahren durch Haifa und am Ende löst sich alles durch einen Deus-Ex-Machina-Drehbuchtrick in Wohlgefallen auf. Form? Ästhetik? Fehlanzeige. Man meinte wohl, es komme nicht darauf an. Fazit: ... es kommt nicht darauf an.

Zwischen Kontemplation und Provokation

Ganz anders sieht das schon beim türkischen Film "Cogunluk" von Seren Yüce aus. Eine zeitgenössische Romeo und Julia-Geschichte in Istanbul. Doch der Romeo ist hier ein etwas dickerer Teenager, der sich einfach nicht von seinem omnipräsenten Vater emanzipieren kann. Die Liebe zu einer Kurdin ist da schon ein ziemlich mutiger Schritt. Doch die Beziehung soll nicht sein. Yüce erzählt das alles, wie es typisch ist für das junge türkische Kino in langen und intelligent komponierten Bildkadern. Congunluk heißt auf deutsch soviel wie Mehrheit. Der Film will genau das zeigen: Eine Gesellschaft der Konformität, wo sich jeder den Hierarchien anpasst und keiner sich traut seinen eigenen Weg zu gehen. Die letzte Einstellung nimmt auf den mehrdeutigen Titel wieder Bezug und "Cogunluk" zeigt, dass das türkische Kino zurzeit das aufregendste Autorenkino Europas ist.
Auch gelungen ist der Film "Oca" (Vater) des slowenischen Dokumentarfilmers Vlado Skafars (Reihe: Critics Week). Er zeigt, wie ein Vater und sein Sohn einen Sonntag zusammen beim Angeln verbringen. Da der Vater von der Mutter getrennt lebt, kennen sich Vater und Sohn eigentlich nicht. Und dennoch ist man wie verzaubert von dem Vater, der versucht seinem Kind näher zu kommen, obwohl er weiß, dass am Montag bereits ein neuer Tag anfangen wird, dann ohne seinen Sohn. Skafar mischt Dokumentarisches und Fiktionales und zeigt auch Arbeiter eines slowenischen Dorfes, die während der Dreharbeiten drauf und dran waren ihre Jobs zu verlieren. Väter, die ihre Familien nicht versorgen können, obwohl sie nichts lieber täten. Ein schöner und friedlicher Film. In den Nebenreihen der Festspiele eher eine Seltenheit.

Auch Sion Sono ist in Venedig und zeigt seinen neuen Film "Cold Fish" (Reihe: Orizzonti). Nach seinem sensationellen Berlinale-Erfolg mit dem vierstündigen opulenten Filmspektakel "Love Exposure" ist das neuste Werk des japanischen Provokateurs wesentlich gesetzter (für Sonos Verhältnisse). "Cold Fish" basiert auf einem wahren Serienkiller-Fall, der Anfang 2009 Japan in einen Schock versetzte. Ein Verkäufer von tropischen Fischen hat sich als Mörder von über 80 Personen herausgestellt. Gemeinsam mit seiner Frau zerstückelte und verbrannte er seine Geschäftspartner. Sono zeigt das als wunderbar gespielten Kriminalfilm, wie ihn auch die Coen-Brüder hätten inszenieren können. Erst in der letzten Dreiviertelstunde des 144 Minuten langen Films gerät das ganze zu der Blut- und Gewaltorgie, die die Sono-Fans gewohnt sind. Das absolute Highlight ist dann auch die Szene, wo das Blut aus einem bis zur Hälfte zerstückelten Torso zwei kämpfende Gestalten davon abhält, sich das Messer zwischen die Rippen zu stoßen. Das klingt so beliebig und auf den bloßen Effekt hingetrimmt, aber Sono zeigt auch eine völlig aus den Fugen geratene Welt, die kein Happy End erlaubt. Am Ende gibt es ein Massaker von Shakespeare'schem Ausmaß, das die blutige Moral des Films offenbart: "Life is hard."

Ab in die Therapie

In Venedig kommt man schnell zum Schluss, dass die Welt von verrückten, verklemmten und durchgeknallten Figuren bevölkert ist, die eigentlich alle eine Therapie nötig hätten. Da trifft es sich gut, dass der tschechische Altmeister der Animationscollage Jan Svankmajer den passenden Film dazu gemacht hat. "Prezit svuj zivoz" (Surviving Life) ist die Geschichte eines Mannes, der sich in seinen Träumen in eine junge Frau verliebt und beschließt, in der Realität seine Ehefrau zu verlassen, um für immer in seinen Träumen zu leben. Svankmajer nennt seinen Film folgerichtig eine psychoanalytische Komödie und es scheint, als hätte er Freuds Traumdeutung verfilmt. Dabei darf man nicht vergessen, dass seine Filme immer routinierte und kantige Animation mit herkömmlichen Filmaufnahmen mischen. Dafür ist er berühmt, das macht ihn einzigartig und "Surviving Life" zu so einem herausragenden Film. Was kann es denn schöneres geben, als einen Menschen, der sich für seine Träume entscheidet? Svankmajer sagt auf der Pressekonferenz, dass er es sehr schade findet, dass die Menschen die Welt der Träume gegen die reale eingetauscht hätten. "Es wundert mich aber dann doch nicht: In der Traumwelt kann man kein Geld verdienen."

Wem selbst die psychologischen Ansätze Freuds und Jungs zu trostlos erscheinen, um dem Wahnsinn der Welt zu entfliehen, der findet sicherlich in dem Kurzfilm des 102-jährigen Manoel de Olivera eine Art Erlösung. "Paineis de Sao Vincente de Fora, Visao Poetica". Der Film entstand im Rahmen des Jubiläums des Kunstmuseums der Serrvales Foundation in Porto. Es ist die schlichte Interpretation des bekannten Gemäldes von Nuno Goncaves. Dabei übernimmt der heilige Vincent selber die Interpretation, wobei er alle im Gemälde Anwesenden zu sich an die Seite bittet. "Wir waren offen für die Welt. Friede sollte herrschen zwischen Christen, Muslimen und Juden. Alles sollte so sein. Und wie ist es jetzt?". Man sollte dem 102 Jahre alten Manoel de Oliviera diesen Wunsch erfüllen: Friede auf Erden, das wäre doch das Mindeste zu Ehren des ältesten noch praktizierenden Regisseurs der Welt.

 

Dienstag, 07.09.2010

Alles, was wir geben mussten

Es stürmt wieder am Lido. Wieder ist der Presseraum überflutet und wieder bekommen alle Anwesenden nasse Füße. Aber das stört niemanden, denn das hohe Niveau der Filme entschädigt für alles. Zurzeit mischen Filme aus Frankreich, China und Griechenland den Wettbewerb auf.

Spricht man mit Kollegen, so sind sich alle einig: Die Qualität des Wettbewerbs ist stärker als in den letzten Jahren. Deshalb ist es vollkommen zwecklos nach Favoriten zu suchen. Der internationale Kritikerspiegel wird von Tsui Harks "Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame" angeführt, dicht gefolgt von Sofia Coppolas "Somewhere" und Pablo Larrains Liebesthriller "Post Mortem". Fast jeder Film wird hier - meist zu recht - gefeiert.

Auch der diesjährige Überraschungsfilm im Wettbewerb ist mit Begeisterung aufgenommen worden. Zu Recht, denn Wang Bings "The Ditch" hat das Zeug zum Siegerfilm. In der Wüste Gobi werden während der kommunistischen Kulturrevolution mehrere Intellektuelle in Umerziehungslagern gefangen gehalten. Unter unwürdigen Umständen müssen sie schwachsinnige Arbeiten vollbringen. Von 3000 Inhaftierten werden nur 500 überleben. Bing zeigt das in sagenhaften dokumentarischen Aufnahmen. Die Männer hungern und sterben. Voller Verzweiflung greifen einige zum Äußersten und essen bereits verstorbene Mithäftlinge.
Das ist schwer zu ertragen, und dennoch muss Bing das genauso erzählen. Er beteuert bei der Pressekonferenz, dass alles, was er zeigt, so passiert sei. Die Kamera lässt der Regisseur, der zuvor mit einem neunstündigen Dokumentarfilm über die Behandlung von chinesischen Industriearbeitern für Aufsehen sorgte, stets in Hüfthöhe platzieren. Damit rückt er den Zuschauer direkt ins Geschehen und macht die höllischen Qualen, die diese Menschen erleben, wuchtig erfahrbar. Natürlich wurde der Film nicht von der chinesischen Regierung erlaubt und musste geheim gedreht werden.
"The Ditch" leistet daher Großes. Gerade für ein Land wie China, das sowohl innen- als auch außenpolitisch ständig mit einer zukunftsgerichteten Politik und mit dem wirtschaftlichen Fortschritt in Verbindung gebracht wird, ist der Blick zurück, auf die unmenschlichen Taten der Vergangenheit, ein längst überflüssiger Tonwechsel in dieser Debatte.

Ein heller Stern mit tragischem Schicksal

Anders, aber genauso wuchtig, ist der neue Film des französischen Regisseurs Abdelatif Kechiche. Sein letzter Film, der in Venedig gezeigt worden ist, war der hervorragende "Couscous mit Fisch". Nun meldet er sich mit einem nicht minder beeindruckenden Werk zurück. "Venus Noir" ist die Geschichte der Südafrikanerin Sarah Baartman, die unter unwürdigsten Umständen im Europa des frühen 19. Jahrhundert als "Schwarze Venus der Hottentotten" ausgestellt wird. Für die Show wird sie im Käfig gehalten, soll die Menschen wild fauchend angehen, wilde afrikanische Tänze aufführen und vor allem sich anfassen lassen. Kechiche erzählt hier eine wahre Geschichte, die, je öfter man sie hört, nichts von ihrer unfassbaren Grausamkeit verliert.
In London wird sie als Freak von den Leuten gefeiert. Und selbst ein Gerichtsprozess, indem aufgeklärte Engländer Sarahs "Besitzer" wegen Sklaverei und unwürdiger Behandlung verklagten, scheitert. Besonders perfide und nahezu unerträglich wird es dann in Paris, wo die Show sich immer mehr zu einer öffentlichen Vergewaltigung entwickelt. Selten hat man die Entwürdigung eines Menschen derartig unmittelbar inszeniert gesehen wie von Kechiche. Zudem hat der Regisseur eine Hauptdarstellerin gefunden, die unheimlich vereinnahmend den ganzen Ballast der realen Sarah Baartman wiedergeben kann. Yahima Torress leistet in diesem Film schier Unglaubliches, so dass sie selbst Catherine Deneuve und Natalie Portman links liegen lässt, wenn es darum geht, hier am Lido den Darstellerin-Preis zu gewinnen.

Am Ende der Vorstellung von "Venus Noir" erheben sich die Kritiker in der Sala Darsena und wollen den Raum verlassen - plötzlich geschieht etwas unerwartetes und im Nachhinein sehr bewegendes: Im Abspann zeigt Kechiche Dokumentaraufnahmen davon, wie erst 2002 (!) die sterblichen Überreste von Sarah aus Frankreich nach Südafrika gebracht wurden. Nelson Mandela spricht über den freudigen Tag, der endlich eine nie vergessene Landesschwester wieder nach Hause bringt. Alle im Saal stehen, und obwohl die ganze Situation zufällig entstand, sieht es so aus, als hätten sich alle noch einmal erhoben, um Sarah Baartman und ihre unglaubliche Geschichte zu würdigen.
"Venus Noir" schockiert, weil er uns ohnmächtig zurück lässt. Wie können Menschen sich gegenseitig derart Perfides antun? Der Film liefert keine Antwort, nur dieses tiefe Unwohlsein und den unfeinen Gedanken, dass wir wohl immer noch zu so etwas fähig sind.

Beim Anstehen vor der nächsten Wettbewerbs-Vorführung erzählt ein deutscher Verleiher, dass er Abdellatif Kechiche's Film nicht sonderlich gut fand und wohl auch nicht nach Deutschland holen werde, obwohl sein Verleih "Couscous mit Fisch" auf die deutschen Leinwände brachte. "Die Geschichte in allen Ehren. Aber wer soll sich das ansehen? Und dann dauert der Film noch 160 Minuten." Gewisse wirtschaftliche Faktoren außer Acht gelassen, machen solche Aussagen die ganze Misere der deutschen Filmlandschaft deutlich. Sollte "Venus Noir" nicht nach Deutschland kommen, werden die Zuschauer wieder mal einen wirklich exzellenten Film verpassen. Vielleicht gewinnt er den Goldenen Löwen. So etwas hilft ja bekanntlich einen Film ins Kino zu bringen.

Terrorclown beißt Franco in die Hand

Den spanischen Wettbewerbsbeitrag "Balada triste de trompeta" sieht der Filmkritiker in der Pala Biennale, einem großen Zelt etwas abseits des Festivalzentrums. Dass Alex de la Iglesias Horrorgeschichte gerade in dieser Zirkusatmosphäre gezeigt wird, hat seinen besonderen Reiz.
Alex de la Iglesia gilt als König des schlechten Geschmacks in Spanien. In seinem neusten Film lässt er einen traurigen Clown Amok laufen, um eine Frau aus den Fängen eines anderen Clowns zu befreien. Das ist ein brutales Horrormärchen und ganz im Sinne Iglesias ultragewalttätig. Im besten Fall ist der Film eine furiose Parabel auf die mörderischen Strukturen in Spanien während der Franco-Diktatur (Franco hat auch einen skurrilen Auftritt: In einer Szene beißt der traurige Clown dem Diktator in die Hand), im schlechtesten ein kleines schmutziges Mitternachtsmovie. Visuell erinnert dieser tolle und kurzweilige Trip an die Filme von Robert Rodriguez und - na klar - an die von Quentin Tarantino. Und alle, die Tarantino bei der Premiere von "Balada triste de trompeta" sahen, wissen, dass er den ganzen Film höllisch unterhaltsam fand. Was Besseres kann man ihm gar nicht vor die Nase setzen.

Die griechische Variante der Berliner Schule

Einen ganz anderen Ton schlägt der griechische Beitrag "Attenberg" der Regisseurin Athina Rachel Tsangari an. Ruhig und in schönen grobkörnigen Bildern zeigt sie, wie eine Teenagerin ihren krebskranken Vater verliert und sich mit ihm auf ein neues Leben vorbereitet. Wäre "Attenberg" von einem deutschen Regisseur gedreht worden, dann würde man das Werk der Berliner Schule zuordnen. Vieles erinnert an Filme von Heisenberg, Späth, Ade und Griesebach. Doch mit seinen glasklaren Metaphern verfügt der Film über eine rührende Tiefgründigkeit, die zum Beispiel beim russischen Beitrag "Ovsyanki" nur behauptet wurde. Auf der Berlinale wäre "Attenberg" ein klarer Favorit auf den Hauptpreis. Hier in Venedig ist die Konkurrenz derart groß, dass bezweifelt werden darf, ob er was gewinnen wird.

Ebenfalls keine Chancen dürfte die erste große Enttäuschung seit Beginn des Festivals haben. Das dreieinhalb-stündige italienische Staatsgründungs-Epos "Noi credevamo" ist ein grauenhaftes Erlebnis im schlechtesten Sinne, das eigentlich nichts weiter ist als eine ungeschnittene Mini-Fernsehserie. Das darf dann in fünf Teilen auf RAI laufen, hat allerdings im Wettbewerb nichts zu suchen. Am besten hat dieses Machwerk noch Therry Jobin, der Filmredakteur der französischen Zeitung Le Temps, zusammengefasst: "Blablabla revoluzione blablabla democrazia." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

 

Montag, 06.09.2010

Der neue Jarmusch

Vincent Gallo ist der eigentliche Star des Filmfestivals in Venedig. Er spielt nicht nur die Hauptrolle in Jerzy Skolimowskis Wettbewerbsbeitrag "Essential Killing", sondern schickt mit "Promises Written in the Water" auch seine dritte Regiearbeit ins Rennen um den Goldenen Löwe. Und auch sonst kommt man an Vincent Gallo nicht vorbei.

Radikal, provozierend und aufopfernd - das sind die prägenden Merkmale des Schauspielers, Regisseurs und neuerdings auch Musikers Vincent Gallo. Der 1961 geborene Gallo schert sich nicht um Konventionen oder den allgemeinen Publikumsgeschmack. Deshalb nimmt er gerne Rollen an, die ihn persönlich aufs Äußerste fordern. Wenn er dann noch hinter der Kamera steht und für die Geschichte verantwortlich ist, dann wird es erst recht hitzig - vor allem unter den Fachleuten. Die Vorstellung seines Films "Brown Bunny" in Cannes 2003 ist mittlerweile legendär. Er wurde ausgebuht und ausgepfiffen. Dabei ist das introvertierte Road Movie, das mit einem Blow Job endet, im Gegensatz zu seinem neusten Film ein harmloser Streich.

"Promises written in the Water" ist ein sehr inkonsistentes Werk. Die bruchstückhafte Studie einer Beziehung zwischen einem Bestattungsunternehmer (Gallo) und eines krebskranken Modells (Delfine Bafort). Mit seinen grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern erzeugt Gallo die Erinnerung an die Ursprünge des amerikanischen Independentkinos. Lange und starre Aufnahmen von Gallo, die ihn dabei zeigen, wie er sich auf eine Beerdigung vorbereitet, erinnern an die frühen Werke eines Jim Jarmusch oder Michelangelo Antonioni.
Mit einer geradezu bewundernswerten Konsequenz zerlegt Gallo alles, was man als Ansatz einer Geschichte beschreiben könnte. Einmal sitzt der Bestatter Kevin mit dem Model Mallory in einem amerikanischen Diner und sie unterhalten sich. Sie fragt ihn, worüber er mit seiner Ex-Freundin am Telefon gesprochen hat. Daraufhin verfängt sich Gallo in einer Verbalschleife, die immer wieder die gleiche Antwort in gewissen Abwandlungen variiert. Damit verbinden sich im Film auf faszinierende Weise Probeaufnahmen, Outtakes und Improvisationen miteinander. Dazwischen bekommt man das Gefühl, dass für die träge Atmosphäre niemand anderes als das Werk Andy Warhols Pate gestanden hat.
So einen Film im Wettbewerb laufen zu lassen, zeugt von einer unglaublich klugen und mutigen Einstellung der Festivalkommission. Man kann sich eigentlich kein anderes Festival vorstellen, das sich ähnliches getraut hätte. Doch "Promises written in the Water" kam bei der Presse alles andere als gut an. Die Kritiker pfiffen ihn aus. Gallo hat es wieder einmal geschafft das Publikum in Rage zu versetzen und Venedig seinen ersten ganz kleinen Skandal zu verschaffen.

Am Ende aller Kräfte

Ganz anders zeigt sich Vincent Gallo in Jerzy Skolimowskis "Essential Killing". Hier spielt er einen afghanischen Taliban, der aus der Wüste seines Heimatlandes von amerikanischen Truppen in ein nicht weiter benanntes Verhör- und Foltergefängnis in Polen gebracht werden soll. Auf dem Weg dahin gelingt ihm allerdings die Flucht in die schneebedeckten Wälder Ostpolens. Skolimowski fordert von Gallo das Maximum an physischer Präsenz, weil seine Figur im gesamten Film kein einziges Wort spricht. "Essential Killing" ist ein Werk, das den nackten Überlebenskampf eines Menschen in der Natur schildert. Gallo kämpft sich durch den Schnee und versucht nicht zu sterben. Dabei muss er natürlich häufig zum Äußersten greifen und töten.
Töten um zu überleben - dies ist die Notwendigkeit, die der Titel bereits suggeriert. Aber Skolimwoski geht es in seiner Geschichte um mehr. Seine kurze Afghanistan-Exposition, die dem Film eher unfreiwillig einen größeren politischen Kontext verleiht, führt zunächst in die Irre. Mit den famosen Bildern seines Kameramanns Adam Sikora inszeniert Skolimowski einen harten und rohen Kampf, der in seinem Unterstrom an den Kern von Joseph Conrads Novelle "Herz der Finsternis" erinnert.

Gallos Figur wirft in diesem Film Schritt für Schritt sein zivilisatorisches Gepäck ab. Er muss allein seinen Instinkten folgen. Das führt dann auch sicherlich zu einer der - im wahrsten Sinne des Wortes - merkwürdigsten Szenen des Festivals; als Gallo nämlich an der Brust einer ohnmächtigen Frau saugt. Skolimowski beweist sich einmal mehr als eigenwilliger Stilist, der auch noch mit weit über 70 Jahren nicht den geringsten Anlass verspürt, eine herkömmliche Geschichte zu erzählen. Meisterhaft geht er mit dem exzellenten Sound-Design um, das dem Film immer wieder seine Härte und Wucht verleiht. Zudem lässt sich Skolimowski den Platz, um mit Rück- und Vorblenden zu arbeiten. So sehen wir in unregelmäßigen Abständen, was Gallos Figur geschehen wird, bevor es dann tatsächlich passiert.

In ihrer Kompromisslosigkeit hat sich mit Skolimowski und Gallo ein sich hervorragend ergänzendes Team gefunden, das hier am Lido zu den ganz großen Favoriten gehört. Außerdem wäre es eine große Enttäuschung, wenn Vincent Gallo am Samstag bei der Abschlusszeremonie nicht wenigstens mit einem Darstellerpreis bedacht werden würde. Welchen Film sich die Jury dafür als Vorwand aussucht, ist egal, und sei es den Kurzfilm "The Agent", der in der Orizzonti-Reihe gezeigt wird. Regie, Drehbuch, Schnitt, Musik und Hauptrolle: Vincent Gallo.

 

Sonntag, 05.09.2010

Schuld und Sühne

Crimeday bei den Filmfestspielen in Venedig. Auf den Leinwänden laufen Killer und Detektive durch die Gegend. Dabei verhandeln die neuen Filme von Tsui Hark und Pablo Lorrain die moralische Integrität ihrer Figuren anhand ihrer Berufe.

Das Kino, wenn es denn mal mehr sein darf als bloße Unterhaltung, ist ein Spiegel der Welt. Gerade Festivals eigenen sich hervorragend, um den aktuellen Seelenstand der Welt zu erfragen. Die Bilder in Venedig sprechen zurzeit eine eindeutige Sprache: Der Mensch leidet. "Norwegian Wood" oder "Ovsyanki" zeigen das Leiden als bloßen Selbstzweck. Es erwächst hier nichts Zwingendes, es herrscht völlige Unklarheit darüber, wieso diese Menschen es sich hier so schwer machen. Schließlich ließen sich ihre Probleme in den meisten Fällen ohne weiteres beheben. Es kommt einem fast so vor, als würden die Figuren in diesen beiden Filmen vor ihrem Glück absichtlich davonlaufen.

Die Nachbarin, die ich liebte

In Pablo Lorrains Wettbewerbsbeitrag "Post Mortem" ist das schon völlig anders. Die Geschichte eines Autopsieprotokollanten zur Zeit des chilenischen Militärputsches entwickelt trotz quälend langsamem Erzählrhythmus einen fesselnd Sog. Mario verliebt sich in seine Nachbarin, die allerdings seine romantischen Avancen regelmäßig ignoriert. Einmal kommt sie Mario besuchen, da sagt sie: "In meinem Haus sitzen nur Männer und diskutieren über Politik." Dann kommt das Militär und Marios Nachbarin samt Familie verschwindet.
Im Gegensatz zu "Norwegian Wood" gelingt es "Post Morten", das Drama seiner Hauptfigur in den politischen Turbulenzen seiner Zeit aufgehen zu lassen. Das glückt hier, weil sich der Film den Zugang zum Politischen durch den Beruf seines Protagonisten verschafft. Ins Krankenhaus werden während des Putsches dutzende Leichen geliefert. Alle sollen obduziert werden. Es sind erschossene Politiker und Zivilisten, die sich an die Seite von Salvador Allende stellten. Mario leistet keinen Widerstand, weil er ein Mensch von höchster Zurückhaltung ist. In seinem Gesicht spiegeln sich keine Emotionen. Nur einmal, als er und das Ärzteteam zur Autopsie von Salvador Allende geführt werden und unter den Augen Pinochets es nicht schaffen den Brustkorb aufzuschneiden, merkt man auf welcher Seite sie stehen.
"Post Mortem" schafft es mit der letzten, furiosen Einstellung noch eine andere Geschichte zu erzählen, die das persönliche Drama Marios auf eine andere Ebene bringt. Er wird eine Tat begehen, die ihn dann doch noch schuldig machen wird. Pablo Lorrains Film sagt, dass es in politisch unsicheren Zeiten keine Unschuldigen gibt. Und selbst die Zurückhaltung erzwingt von jedem Einzelnen sich zu entscheiden. Auf eine persönliche Verletzung folgt eine gewalttätige Handlung, die jede Gerechtigkeit vermissen lässt. Mario hat sich also schuldig gemacht. Wer sollte ihm seine Tat verzeihen? Am wenigsten er selber.

Gerechtigkeit gibt es nicht

Schuld und Gerechtigkeit verhandelt - wenn auch in einer völlig unterschiedlichen Tonlage - Tsui Harks Detektivgeschichte "Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame". Hark ist einer der prägenden Vertreter des Hong Kong-Kinos. Wenn die Filme eines Wong Kar Wai eher Cool Jazz entsprechen, dann sind Harks Geschichten wie Heavy Metal - reinste Kinetik. Doch Hark hat schon alle Genres bedient. Vieles, was dieses Arbeitstier anpackt, misslingt. Doch man ist gewillt zu behaupten, dass ein misslungener Hark immer noch wesentlich interessanter scheitert als viele seiner Kollegen. "Detective Dee …" ist eine sehr unterhaltsame und gekonnt inszenierte Mystery-Geschichte, die zur Zeit der einzigen chinesischen Kaiserin spielt. Diese steht kurz vor ihrer Inthronisierung, da gehen sowohl der Polizeichef, als auch der Bauleiter einer 66 Meter hohen Buddha-Statue, die zu Ehren der neuen Regentin fertig gestellt werden soll, in Flammen auf. Um die mysteriösen Selbstverbrennungen zu untersuchen, befreit die Kaiserin den von ihr persönlich weggesperrten Detektiv Dee. Er soll die Ermittlungen leiten.
Hark hat ein untrügliches Gespür dafür bereits sehr früh visuelle Hinweise auf die weitere Entwicklung seiner Geschichte zu geben. Gerade bei einem Plot wie hier, der einer typischen Detektivgeschichte folgt, erweist sich das als vorteilhaft. Wichtig werden dabei immer die Sequenzen, in denen Hark die Figuren miteinander sprechen lässt. Wenn man seinem Stil aufmerksam folgt, merkt man, dass es nicht zufällig ist, dass nach der Prophezeiung des Hofpriesters (der hier als Reh auftritt) Hark zunächst auf die Vorkosterin der Kaiserin (eigentlich eine einfache Bedienstete) schneidet und dann erst auf die Herrscherin. Hark legt optische Fährten, denen zu folgen genauso viel Spaß macht, wie den hervorragend choreographierten Kampfszenen zu zusehen.
Und selbst die Metaebene des Films zeigt sich wesentlich gehaltvoller als das in solchen Genrespielereien üblich ist. Detektiv Dee ist nämlich ein Ermittler, der mit seiner Geradlinigkeit und seinem simplen Gerechtigkeitssinn an die Private Eyes der Film Noirs erinnert. "Foltern bringt nichts. Das vernichtet den Geist des Menschen und macht ihn zum Feind", sagt er einmal. Da möchte man ihm gar nicht widersprechen. Er macht sich mit keiner Sache gemein. In einer Welt voller Korruption, Betrug und Verrat ist kein Platz für einen wie ihn. Seine Arbeit ist getan und deshalb verschwindet er am Ende in die Dunkelheit.
Sowohl "Detective Dee …" als auch "Post Mortem" sind gelungen, weil sie Figuren folgen, die sich die Welt durch ihren Beruf erschließen. Deshalb sind die beiden Werke nie voyeuristisch, sondern folgen stets einem alten und oft erprobten filmischen Code, den schon Regiemeister wie Billy Wilder oder Alfred Hitchcock nutzten. Menschen, die ohne ihr eigenes Verschulden in Extremsituationen geraten und so zum Handeln gezwungen werden. Und da jede Handlung Folgen mit sich bringt, müssen sich die Figuren auf der Leinwand und der Zuschauer im Saal mit den eigenen moralischen Maßstäben auseinandersetzen. Das Kino als Spiegel der Welt. In Venedig erreicht es diese Qualität.

 

Samstag, 04.09.2010

Der weibliche Blick

Stimmungswechsel am Lido: Endlich wird der Wettbewerb kräftig aufgemischt. Filme aus Frankreich und Italien ernten Szenenapplaus und verpassen den Festivalbesuchern Lachtränen. Daran hat auch eine brillante Catherine Deneuve ihren Anteil. Außerdem positioniert sich Kelly Reichardt neben Sofia Coppola im Rennen um den Goldenen Löwen in der ersten Reihe.

Der offizielle Festivaltrailer ist eigentlich ziemlich simpel, etwas laut und ein bisschen nervig. Aber er zeigt einen Ausschnitt aus einem der ersten Stummfilme, die die Welt gesehen hat. Der Plot ist simpel: Ein Gärtner gießt mit einem Schlauch die Blumen. Ein kleiner Junge beobachtet ihn und tritt mit seinem Fuß auf den Schlauch. Das Wasser stoppt, der Gärtner guckt verdutzt in die Öffnung, der Junge nimmt seinen Fuß vom Schlauch und schon ist es passiert. Ein Lausbubenstreich. Und dennoch gilt dieser Film als erste auf Zelluloid gebannte Komödie. Das Publikum zum Lachen zu bringen, war schon immer ein Anliegen der Filmemacher. Nicht umsonst ist die diesjährige Retrospektive der italienischen Komödie gewidmet. Und es brauchte erst eine waschechte Komödie im Wettbewerb, um die Qualität der Beiträge endlich auf ein anständiges Niveau zu heben.

Die italienischen Scht'is

Um das ganze Geschehen noch witziger zu machen, war es dann sogar ein italienischer Film, der dieses Kunststück vollbrachte und mit einem Schlag gute Laune am Lido verbreitete. "La Passione" heißt das Werk. Regisseur Carlo Mazzacurati erzählt von einem Berufskollegen, der in einer Schaffenskrise steckt. Gianni Dubios (Silvio Orlando) soll einen Film mit einer jungen Starschauspielerin drehen, doch ihm fehlt die Geschichte. Neben dem beruflichen Druck kommt noch privater hinzu. In Dubois' Zweitwohnung in der Toskana sind die Rohre zerbrochen und das Wasser hat dabei ein uraltes Fresko beschädigt. Um nicht beim Kulturministerium angeschwärzt zu werden, willigt Dubios ein, beim Passionsspiel des Dorfes Regie zu führen.
Es sind bekannte Motive, die Mazzacurati in "La Passione" benutzt, um seinem Film den Humor zu verleihen. Er erzählt vom Unterschied zwischen Stadt und Land. Das erinnert sofort an den französischen Megahit "Willkommen bei den Scht'is", und einen ähnlichen Erfolg dürfte dieser Film in Italien haben. Herrlich absurd zum Beispiel, dass es im Dorf nur eine Stelle gibt an der man Handyempfang hat. Und wenn dann noch ein ehemaliger Sträfling mit künstlerischen Ambitionen zu Dubois' Assistenten aufsteigt, gibt es hier kein Halten mehr. Wie aber jede gute Komödie verrät auch "La Passione" seine Figuren nicht. Sie werden nie vorgeführt, sie sind keine Freaks, keine Fratzen. Diese Menschen sind einfach nur schrullig und etwas seltsam, aber im Grunde liebenswert. "La Passione" ist daher auch ein Film über die richtigen Entscheidungen geworden. Über die, die man treffen sollte und über den Moment, an dem man merkt, dass man den falschen Weg eingeschlagen hat. Ein schöner Film, einer mit Herz, und das zählt.

Vom Haushaltsmuttchen zur Powerfrau

Einen anderen Humor legt der Franzose Francois Ozon mit seinem Wettbewerbsfilm "Potiche" an den Tag. In diesem grellen 70er Jahre-Pastiche widmet sich das ewige Wunderkind des französischen Kinos einer im Luxus lebenden Hausfrau, die plötzlich dazu gebracht wird für ihren Mann die familieneigene Regenschirmfabrik zu leiten. Ozons Film begeistert aus gleich mehreren Gründen. Zum einen brilliert in der Hauptrolle niemand anderes als die einzigartige Catherine Deneuve, die hier die Suzanne Pojol spielt. Eine Frau, die sich als Hausfrau zwischen Schmuck und Stilettos ziemlich wohl fühlt. Doch einmal in der Führungsposition, entwickelt sie einen Drang sich endgültig selbst zu verwirklichen. Das hätte schnell lächerlich werden können. Eine billige und offensichtliche Emanzipationsgeschichte will man im Kino nicht und schon gar nicht von Francois Ozon sehen. Doch mit einer Deneuve, die immer stilsicher und elegant auch die peinlich anmutenden Momente bewältigt, ist "Potiche" doch ein anderer Film geworden. Einmal mehr zeigt "die Deneuve", dass sie immer noch die beste europäische Akteurin ist.
Auf der anderen Seite hat Ozon hier wieder bewiesen, wie wandlungsfähig er ist. Verglichen mit Regisseuren wie Emir Kusturica, die ständig den gleichen Film zu drehen scheinen, wechselt Ozon mit jedem Film das Genre und versucht manchmal Unvereinbares zusammenzuführen. Erst kürzlich hat er mit "Ricky" das dokumentarische Sozialkino der Dardennes mit den fantastischen Fantasien eines Terry Gilliam kombiniert. "Potiche" erinnert mit seiner Split-Screen-Montage, den Kreisblenden und dem wuchernden Soundtrack an eine pastellfarbene Ausstattungsorgie, die manchmal den Gedanken an Ozons "8 Frauen" evoziert.
Am Ende sind es aber Gerard Depardieu - der hier Suzannes verflossene Liebe spielt und gleichzeitig der Bürgermeister der Stadt ist - und Catherine Deneuve, die die Leinwand zum Beben bringen. Mit pointierten Wortkaskaden bringen sie sicherlich nicht nur das Fachpublikum am Lido zum lachen, sondern auch bald den ganz normalen Kinogänger. Denn selten wurden Klassen- und Geschlechterkampf so hellsichtig und unaufdringlich dargestellt wie hier.

Der Western mit den Augen einer Frau

Kein Lachen, dafür respektables und konzentriertes Schweigen herrschte während Kelly Reichardts Western "Meek's Cutoff". 1885 brachten die Brüder Stephen und Joe Meek eine tausendköpfige Pilgergruppe vom Oregon-Trail ab, um mit einer Abkürzung, die es eigentlich nicht gab, schneller ans Ziel zu kommen. Da man lange Zeit keine Wasserstelle finden konnte, drohte diese Expedition zu einem Todeskommando zu verkommen. Reichardt, die erst letztes Jahr im Kino mit ihrer stillen Einsamkeitsstudie "Wendy & Lucy" begeistern konnte, geht hier noch einen Schritt weiter. Obwohl sie ohnehin eine Regisseurin der Reduktion ist, ist ihr neuster Film in dieser Hinsicht um einiges extremer.
Zunächst reduziert sie die Fakten und zeigt nur einen aus drei Familien bestehenden Pilgerzug, der von Stephen Meek geführt wird. Reichardt verzichtet dabei auf jegliche Exposition. Wir erfahren nicht woher die Pilger kommen, was ihre Motive sind, sich Meek anzuschließen, und wohin es sie eigentlich treibt. "Meek's Cutoff" ist eine hoch subtile Betrachtung einer harten und mörderischen Reise. Der Regisseurin geht es um ganz kleine und stille Konfliktsituationen, die sie nie laut eskalieren lässt. Langsam werden die Pilger ungeduldig, weil sie kein Wasser mehr haben. Die Zweifel an Meek werden immer größer. Die Männer diskutieren über den weiteren Verlauf des Weges und um die Gefahren, die um sie herum lauern könnten.
Doch Reichardt hat auch einen Blick für die Frauen, de facto ist "Meek's Cutoff" in seinem dramaturgischen Umgang mit den Frauenfiguren ein a-typischer Western. Sind in den üblichen Vertretern dieses Genres Frauen meist nur Marginalien und Sinnbilder der männlichen Protagonisten, die in ihnen das sichere Heim und den Nachwuchs sehen, so ist das hier anders. Die Pilgerin, die Michelle Williams verkörpert, ist vielleicht sogar die heimliche Hauptfigur. Und in Reichardts Film kann man lernen, wie man eine Geschichte rein visuell - also mit der eigentlichen Sprache des Films - erzählt. Zu Beginn wird Williams' Figur noch in nichtssagenden Mediumeinstellungen gezeigt. Sie ist einfach eine der Frauen auf den Planwagen. Dazu trägt sie auch noch die für Pilgerinnen übliche Haube, so dass man eigentlich nichts von ihr erkennen kann. Doch wenn sie dann Schritt für Schritt Kritik an Meek übt, oder einen gefangenen Indianer einigermaßen human behandelt, merkt man, dass Reichardt ihr immer näher kommt. Close-Ups von diesem wunderbar ätherischen Gesicht. Es ist eine Geschichte der Befreiung, die hier erzählt wird.
"Meek's Cutoff" muss man sicherlich noch weiteren Sichtungen unterziehen, bis man vollständig hinter dieses Meisterstück gelangt ist. Aber so viel sollte hier am Lido klar sein: Reichardt gehört geehrt und das vielleicht sogar mit dem höchsten aller Preise.

 

Freitag, 03.09.2010

Himmel, Hölle und ein Hotel

Eine Sturmfront demoliert den halben Lido. Leider kann sich die turbulente Wetterlage nicht auf die Leinwände übertragen. Wettbewerbsfilme aus den USA und Russland zeigen vor allem lethargische und tief melancholische Helden. Nur Amos Poe gelingt ein fast unbeachteter Höhepunkt.

Zugegeben, das hat Stil: Täglich rauscht der Kritiker mit einem Vaporetto vom venezianischen Festland rüber auf den Lido, um sich den ersten Film anzusehen. Während das Boot langsam übers Wasser schwappt, geht überm Markusplatz die Sonne auf. Wo man in Venedig auch hinschaut - Postkartenmotive. Und Touristen. Meist aus Deutschland. Doch das urlaubshafte Klima, das den ein oder anderen Journalisten dazu veranlasst einen Film sausen zu lassen und sich an den Strand zu legen, kann hier auch ganz anders.

Es ist während der Vorführung von Sofia Coppolas "Somewhere" in der Sala Darsena, als der Himmel von Sonne auf Regen schaltet. Die Sala Darsena ist eigentlich nichts anderes als eine zum Kino umfunktionierte Lagerhalle. Genauso kalt wie rustikal. Und man hört den peitschenden Regen so laut, dass Coppolas leise Erzählung einen ungewollten Blitz und Donner-Soundtrack erhält. Nach dem Film flüchten die Journalisten in das große Casino, das zum Pressezentrum umfunktioniert worden ist. Aber auch hier gibt es vor den Wassermassen kein Entkommen. Das Arbeitszentrum - die einzige Möglichkeit ins Internet zu kommen - muss wegen Überflutung geschlossen werden. Große Sonnenschirme liegen in Trümmern über den ganzen Platz verteilt. Und selbst die edlen Löwenfiguren sind zerstört. Irgendwie herrschte für einen ganz kurzen Moment Weltuntergangsstimmung. Gar nicht so unpassend zu der depressiv-melancholischen Stimmung, in der sich die meisten Leinwandfiguren zurzeit befinden.

Eine Studie der Langeweile eines Stars

Im bereits erwähnten "Somewhere" erzählt Sofia Coppola nach "Lost in Translation" erneut eine Hotelgeschichte. Im Mittelpunkt steht auch diesmal wieder ein Schauspieler. Doch im Gegensatz zu Bill Murrays abgehalftertem Darsteller wirkt Johnny Marco (Stephen Dorff) wie ein Megastar. Gerade erst hat er seinen neusten Film abgedreht und feiert ordentlich mit seinen Freunden, seinem schwarzen Ferrari und Frauen - sehr vielen Frauen. Da er in einem Hotel (es ist nicht irgendein Hotel, es ist das berüchtigte Chateau Marmont Hotel in L.A.) lebt, braucht er sich auch nicht ums Saubermachen, Kochen und sonstige lästige Haushaltsangelegenheiten zu kümmern.
Doch Johnny genießt das nicht. So wie Coppola seinen Alltag zeigt, könnte man meinen, er leidet. Natürlich streng melancholisch. Regelmäßig besuchen ihn zwei heiße Pogo-Dance-Zwillinge, die ihre Tanzstangen extra in seinem Schlafzimmer aufbauen, doch Johnny schläft gerne mal bei ihrer Tanznummer ein. Einmal passiert ihm das sogar, als er mit dem Kopf gerade zwischen den Beinen eines One-Night-Stands ist. Erst als seine 10-jährige Tochter Chloe (Elle Fanning) von ihrer Mutter bei Johnny abgeladen wird, beginnt der gelangweilte Star langsam etwas Spaß in seinem Leben zu empfinden.

"Somewhere" ist Coppolas bisher persönlichster Film geworden, auch wenn sie bis dato mit jedem ihrer Filme vom Leben im goldenen Käfig erzählt hat - also von Menschen, die verhätschelt und viel zu behütet aufwachsen und meist schon einen Lebensweg vorgegeben bekommen. Das geht Kindern von Schauspielern und Künstlern auch so. Sofia Coppola ist selbst Tochter eines der berühmtesten Regisseure Hollywoods und man muss gar nicht mit ihr sprechen, um zu verstehen, dass sie ihre Kindheit nicht immer genossen hat. Ihre Filme sind da eindeutig. Zudem schafft sie es - und das ist so wunderbar an ihrer Arbeit - Schauspieler zu besetzen, die genau dasselbe erlebt haben. Kirsten Dunst, Jason Schwartzman, Bill Murray und jetzt Stephen Dorff und Elle Fanning. Vor allem Letztere ähnelt der jungen Sofia Coppola.

Die Vater-und-Tochter-Geschichte erzählt Coppola in langen, wohl komponierten Tableaus, die natürlich wieder den ihr so eigenen absurd-melancholischen Charme aufweisen. Diesmal hält sie dem ganzen Starwesen und der Filmindustrie den Spiegel vor. Wenn Johnny bei der Pressekonferenz die abstrusesten Fragen erleiden muss ("Wer ist Johnny Marco?"), gab es in Venedig kein Halten mehr. Es ist zu bezweifeln, dass bei der anschließenden Pressekonferenz klügere Fragen gestellt worden sind, amüsant fand die Journalisten-Meute diese Persiflage trotzdem. Eine Preisverleihung in Mailand wird für Johnny zum Erlebnis, wie es das Fotoshooting für Bill Murray in "Lost in Translation" wurde. Außerdem kommt das italienische Fernsehen gar nicht so gut weg, aber wenn man hier mal das offizielle Festival-TV ansieht, trifft Coppola genau diesen dumm-lauten Ton, der hier wohl üblich ist.

"Somewhere" ist hier neben Aronofskys "Black Swan" bisher der einzig ernstzunehmende Kandidat für einen Preis. Es ist auch äußerst interessant, dass Coppola an ihrem Stil weiterarbeitet. Ihr neuster Film glänzt wieder mit einem für Hollywoodverhältnisse radikal entschleunigten und fast schon stummen Drehbuch. Mit seinen enigmatischen Ellipsen und langen Einstellungen wird dieser Film für ein amerikanisches Publikum sicherlich eine Herausforderung sein, denn ganz so laut und schwungvoll, wie sie manchmal in "Marie Antoinette" oder "Lost in Translation" inszenierte, macht es Coppola nicht mehr. Und das macht sie gerade so toll.

Wenn Russen Trauer tragen

Der einzige Beitrag aus Osteuropa, der hier um den Goldenen Löwen konkurrieren soll, stammt aus Russland, wurde vom Regisseur Aleksei Fedorchenko gedreht und heißt "Ovsyanki". Der englische Titel lautet zwar "Silent Souls", ist aber eine völlig dämliche Übersetzung, denn bei den titelgebenden ‚Ovsyanki' handelt es sich um Meisen. Die besitzt der Dichter Aist, der von seinem Chef gebeten wird die gerade verstorbene Frau zu begraben. Aist und sein Chef sind Nachfahren des Marya-Stammes, einer so gut wie verschwundenen finno-ugirischen Kultur. Aist will mit seiner Poesie die Bräuche seiner Vorfahren vorm Vergessen schützen, auch deshalb hilft er seinem Chef.
"Ovsyanki", das ist einer dieser typischen Festivalfilme, die antreten um eine unfassbar tragische Geschichte in langen - ihrer Meinung nach meditativen und poetischen - Einstellungen zu erzählen. Allerdings verfängt sich Fedorchenko inszenatorisch in Dopplungen. Wenn sowohl die narrative, die visuelle als auch die Metaebene des Films auf überdeutliche Weise im depressiven Ton vom Untergang der Merya-Kultur trällern, gibt es keinen Platz mehr für Andeutungen und vor allem keinen Platz mehr für die eigene Reflektion. Zudem dekliniert der Film alle Russlandklischees durch, die man von diesem Kino erwartet. Ja: Russische Männer sind melancholisch und tragen Bärte. Keine Russen ohne Bärte! Sie ertrinken ihren Kummer in Litern von Wodka, und wenn sie dann noch von den Meryas abstammen, flechten sie den verstorbenen Frauen bunte Bändchen in die Schamhaare. Grundsätzlich wäre diesem Thema ein Dokumentarfilm wesentlich zuträglicher gewesen. Denn die Rituale der Meryas haben durchaus etwas berührendes, doch wenn uns zum gefühlt tausendsten Mal Aists Off-Stimme sagt: "Wir werden bald aussterben!", dann kommt es einem so vor, als würde der Film dem Publikum die Schuld dafür geben.
Achja: man könnte noch erwähnen, dass auch in diesem Film sich wieder eine Frau selbst befriedigt. Diesmal eine korpulente Russin. Ob sie auch eine Merya war, wird nicht ganz klar.

Auf Dantes Spuren

Ganz anders und bisher eine wahre Erleuchtung im Festivalprogramm ist Amos Poes außerhalb des Wettbewerbs laufender Experimentalfilm "La Commedia". Poe gilt als eine der herausragenden Figuren des amerikanischen Untergrund- und Experimentalfilms. Von anfänglich gut 30 Journalisten, die den Weg in die Sala Pasinetti (ein kaltes Kellerloch mit kleiner Leinwand und sehr lauten Boxen) fanden, verließen gleich 15 den Raum nach den ersten fünf Minuten. Am Ende waren vielleicht noch zehn Personen in ihren Sesseln. Dabei ist "La Commedia" eine wirklich herausfordernde Erfahrung, die im Gegensatz zu diesen form- und bildlosen Arthausknödelfilmen, die man so tagsüber sehen muss, den Zuschauer wirklich fordert.

Poe hat sich Dante Alighieris Meisterwerk "Die göttliche Komödie" vorgenommen und daraus eine wilde Bild-Ton-Collage gemacht. In drei mehr oder weniger getrennten Kapiteln (Hölle, Fegefeuer, Paradies) lässt Poe verschiedene Interpreten Alighieris Text rezitieren. Die "Gesänge" werden unter anderem von Roberto Benigni gesprochen. Und dann entspinnt sich ein wirklich schwer in Worte zu fassender assoziativer Bilderstrom von Foto- und Filmaufnahmen mit der Musik von u.a. Decay of Angels, Peter Gordon und Hayley Moss. Bilder von Städten, Häusern, Straßen, Menschen, Tieren wechseln, überschneiden und überlappen sich mit Unterwasser-, Luft und Fernsehaufnahmen von Hollywoodklassikern wie "Bonnie und Clyde", "Frühstück bei Tiffany's" und "Psycho". Ein Trip, der beim Zuschauer, soweit er es mit sich machen lässt, einen ungeheuren Bewusstseinsstrom auslösen kann.
Es scheint als würde Poe nach etwas suchen, wie Alighieri nach seiner Beatrice. Immer wieder gelingt es ihm dabei Momente von klarer Schönheit zu finden, nur um sie bereits in der nächsten Sekunde gegen eine vollkommen dissonante Bilderfolge einzutauschen. Das ist hart an der Grenze zum Aushaltbaren - doch wer sich dieser Montage aus Farben, Formen, Gesichtern und Momenten hingibt, wird mit einem nahezu transzendentalen Erlebnis belohnt. Ein Film voller Erinnerungen, die sich langsam mit den eigenen vermischen. Wo die allermeisten Filme eine Geschichte erzählen, hat man bei "La Commedia" das Gefühl, hier sei es eine Million. Und gerade im Teil, der das Pendant zu Alighieris Fegefeuer-Kapitel sein soll, erzeugt der Regisseur einen fast magischen Gedanken: Wenn es stimmen sollte, dass man kurz vorm Tode nochmal sein Leben vor dem eigenen Auge vorbeiziehen sieht, dann möge es doch bitte so aussehen wie in "La Commedia".

 

Donnerstag, 02.09.2010

Do it yourself

Die ersten Wettbewerbsfilme offenbaren bereits ein vorherrschendes Leinwandthema: Selbstbefriedigung. Der erste französische Film ist ein Softporno und Julian Schnabel hält die palästinensische Fahne ein wenig zu hoch.

Das sympathische Chaos des Festivals am Lido wiederholt sich hier vor Ort mehrmals täglich. Es kommt einem manchmal so vor, als würden sich die Veranstalter täglich neue lustige Hindernisse einfallen lassen, die die Berichterstatter vor neue Probleme stellen. Der Kampf ums tägliche Wireless-LAN ist dabei besonders lustig. Es gibt zwar eine begrenzte Anzahl an festen Arbeitsplätzen, die sind aber ständig besetzt. Kein Problem, denn eigentlich hat ja fast jeder einen eigenen Laptop dabei. Das Wireless-Netz steht allen zur Verfügung - und deshalb sollte es eigentlich kein Problem geben. Eigentlich...

Maria schreibt für eine Dresdner Tageszeitung und ist zum ersten Mal in Venedig. Sie hat sich dafür extra einen kleinen Laptop angeschafft, damit sie regelmäßig ihre Beiträge verfassen und recherchieren kann. Doch irgendwie will sich der Computer nicht in das Netz einwählen. Maria wendet sich deshalb vertrauenswürdig an die technische Beratung, die sich auch sofort des Problems annimmt: "Dauert aber eine Stunde", wird ihr gesagt. Nun, aus einer Stunde wurden drei und aus einem Techniker ganze vier, die sich über den kleinen Laptop beugten und unter verwundertem Kopfkratzen und -schütteln feststellten: "Interessant. Das verstehen wir nicht. Aber es gibt noch einen deutschen Journalisten, der hat den gleichen Laptop und kommt auch nicht ins Netz." Maria will bis zum Ende des Festivals diesen Kollegen ausfindig machen, denn geteiltes Leid ist halbes Leid.

"Go home and touch yourself"

Themen und Motive, die mehrere Wettbewerbsfilme verbinden, sind eigentlich doof. Sie sind von Journalisten konstruiert und vernachlässigen manchmal die einzelnen Qualitäten eines Films. Aber es macht einfach zu viel Spaß, die einzelnen Filme miteinander zu vergleichen. Und Venedig macht es einem dieses Jahr auch viel zu einfach. In nahezu allen bisherigen Filmen sehen wir masturbierende Frauen. Natalie Portman masturbiert auf dem Bett, während ihre Mutter im Sessel neben ihr schläft. Außerdem versucht sie es dann nochmal in der Badewanne. Ebenfalls mit eher mäßigem Erfolg.
In Robert Rodriguez' Film "Machete" (außerhalb des Wettbewerbs) masturbiert eine Frau gleich zu Beginn mit Hilfe ihres Mobiltelefons, welches sie mit einem genüsslichen "Flutsch" entfernt. Letztere Szene hat der Filmszene-Redakteur nicht persönlich gesehen, sondern sich erzählen lassen, da die Pressevorstellung zu "Machete" nur für eine höher angesiedelte Journalistenkaste vorgesehen und die offizielle Mitternachtsvorstellung gnadenlos ausverkauft war. In der Schlange zu Sala Grande, die mit jeder Minute wuchs, obwohl es schon zehn Minuten nach zwölf Uhr war, wurde es dann auch äußerst unruhig, als es hieß, dass kein Mensch mit Akkreditierung den Saal betreten dürfe, egal welche Falbe da um den Hals baumelt.

Japanische Trockengebiete

Wenden wir uns deshalb den Filmen zu, die um den Hauptpreis konkurrieren. Der erste offizielle Beitrag nach "Black Swan" war die Haruki Murakami-Verfilmung "Noruwei no Mori" (Norwegian Wood) von Tran Anh Hung. Hung ist ein altbekannter Gast in Venedig. 1995 gewann er mit seinem Meisterwerk "Cyclo" den Hauptpreis des Festivals. Zwei Jahre zuvor wurde der Regisseur als erster Vietnamese für den Auslands-Oscar mit seinem Film "Der Duft der grünen Papaya" nominiert. Die glorreichen Zeiten, die Hung mit seinen Filmen Anfang der 90er Jahre erlebte, sind längst vorbei. Es folgten mehr oder weniger erfolgreiche Ausflüge nach Hollywood und China. Nun ist es eine japanische Geschichte, derer er sich angenommen hat - und es ist ein richtig fieser Reinfall geworden.
Hung erzählt in seiner äußerst vorlagengetreuen Verfilmung des berühmtesten lebenden japanischen Schriftstellers von Watanabe, der 1967 in Tokyo studiert, in Wirklichkeit aber zutiefst seiner verflossenen Jugendliebe Naoko nachtrauert, cie aber immer schon seinen verstorbenen Freund Kizuki liebte. Watanabe versucht mit Naoko zusammenzukommen, obwohl diese immer mehr einer psychischen Krankheit erliegt und sich zur Behandlung in eine sehr skurrile Waldklinik zurückzieht.

133 quälende Minuten dauert diese Kinoerfahrung und davon hätte man sich jede einzelne sparen können. Nicht nur, dass Hung vollkommen ideenlos inszeniert, er begeht auch den brutalen Fehler, Murakamis radikalem Sprachstil nichts entgegenzusetzen. In diesem Film wandern Menschen durch das Bild, dann gibt es einen pseudomalerischen Schwenk durch die Landschaft (Schwenks sind hier sehr wichtig. Es wird immer geschwenkt. Ein Schwenk hier, ein Schwenk da, überall ein Schwenk). Alle wollen sterben, können aber nicht, sind es bereits, oder umgekehrt. Es wird - ums kurz zu machen - sehr viel gelitten in diesem Film, nach japanischer Art. Sie leiden still und leise aber mit viel Bewegung im Freien.
Außerdem könnten oder würden sie alle gerne miteinander schlafen, aber das geht hier natürlich nicht. Deshalb sprechen sie darüber, dass sie nicht feucht werden können (die Frauen) oder dass es sie nicht genug im Schritt drückt (die Männer). Nie hätte einem Film ein Sexshop so gut getan wie diesem. Doch der kommt nicht. Keiner der auf der Leinwand Anwesenden kommt, weder im Bett noch zu sich. Am Ende: alles aus. Zum Glück.

Es rappelt in der Kiste

Vielleicht hätten sich die Japaner aus "Norwegian Wood" ja auch einfach Antony Cordiers "Happy Few" ansehen sollen. Wo es ihnen an sexueller Freizügigkeit mangelte, das gibt es hier en masse. In "Happy Few" beschließen zwei verheiratete Paare einfach regelmäßig die Partner zu tauschen. Da geht es natürlich ziemlich heftig zur Sache. Sex auf der Couch, im Auto, im Garten, in der Waschküche - inklusive Orgienwochenende auf dem Lande mit massivem Einsatz von Mehl. Keine Regeln, keine Grundsätze, die verletzt werden könnten. Die zwei Paare leben, was sie - vielleicht ja zurecht - völlige Freiheit nennen. Und die Kinder werden übers Wochenende bei der Babysitterin abgeladen.
Es ist beeindruckend wie Cordier diesen Softporno (denn letztlich ist das hier doch nichts anderes) inszeniert. Die Metaebene, die große Frage vieler Filme, ob es denn möglich sei, zwei Menschen gleichzeitig und offen zu lieben, kann "Happy Few" nicht verhandeln. Dazu bleiben die Figuren zu schemenhaft. Dabei provoziert Codier mit einigen Einstellungen durchaus die Erinnerung an Agnes Vardas Meisterwerk "Le Bonheur". Doch trotz vergnüglicher Momente fehlt hier eine Vision. Das so ein Werk allerdings hier am Lido provoziert, wo das Publikum vom Altersschnitt deutlich höher angesiedelt ist als z.B. auf der Berlinale, ist nicht weiter verwunderlich. Nach der Pressevorstellung gab es sowohl wütende Buhrufe als auch herzlichen Beifall.

Palästinensische Frauen mit dem Mut der Verzweiflung

Nach Darren Aronofskys Paukenschlagauftakt war es aber Julian Schnabels neuster Film "Miral", der die meiste Aufmerksamkeit am Lido erntete. Zur offiziellen Premiere kamen nicht nur alle Hauptdarsteller, sondern auch Topmodel Naomi Campbell (allerdings ohne Blutdiamanten). Vom Maler Schnabel ist man ja spätestens seit "Schmetterling und Taucherglocke" großes und visuell überwältigendes Kino gewöhnt. Das visuelle Experiment hat er aber in seinem neusten Film zu Gunsten eines Anliegens abgestreift. Ganz nach dem Motto: Filme mit einem Anliegen sind die besten Filme. Nun ja, vielleicht ist ja gerade das hier das Problem.

"Miral" ist zunächst eine Geschichte des gleichnamigen palästinensischen Mädchens (Freida Pinto), das nach dem Selbstmord ihrer Mutter vom Vater in das berühmte Waisenhaus Dar Al Tifl gebracht wird. Dort wächst sie unter der Obhut der klugen Leiterin Hind Husseini (ganz, ganz groß: Hiam Abbas) auf. Es ist eine Kindheit, die zwischen Sechstagekrieg und Intifada stattfindet. Miral gerät als Teenanger an den falschen Mann, an einen Widerstandskämpfer, der sie unnötig gefährdet. Das Mädchen ist zerrissen zwischen den verschiedenen Lebenswegen, die ihre Umgebung ihr vorlebt. Soll sie nun den diplomatisch-pragmatischen Weg gehen, den ihr Vater und Hind ihr vorleben, oder schließt sie sich der radikalen Widerstandsbewegung an?

Schnabels "Miral" ist eine verpasste Chance, weil er die falsche Geschichte erzählt. Nicht Miral - etwas schleppend von "Slumdog Millionär"-Star Freida Pinot verkörpert - ist die interessante Person. Nein, es ist Hind. Und ganz am Anfang mutet "Miral" wie eine Collage aus dem Leben einiger palästinensischer Frauen an. Das ist dann auch hoch interessant, weil Schnabel zwischen die Frauenepisoden immer auch Archivmaterial schneidet. Kollektive und subjektive Erfahrungen vermischen sich zu etwas Spannendem. Doch das setzt er nicht fort. Ebenso wenig wie die Geschichte von Hind, die mit dem tatsächlich existierenden Waisenhaus eine humanitäre Großtat geleistet hat, aber hier viel zu wenig gewürdigt wird. Das ist umso bedauerlicher, da Schnabel hier eine Schauspielerin besetzt hat, auf die man immer wieder ein Loblied singen möchte. Hiam Abbas ist einfach eine Sensation. Zunächst als junge würdevolle Frau in den 1940er Jahren und dann als alte gebrochene Frau, die immer noch voller Scharfsinn die politischen Umstände begreift und wesentlich klüger handelt als die meisten Machthaber um sie herum.
Julian Schnabel ist ein Israelkritiker. Einer der lautesten in den USA, wo dergleichen eher selten zum guten Ton gehört. Schnabel ist aber niemand, der sich um den Ton schert. Regelmäßig schreibt er wütende öffentliche Briefe, die die Behandlung des palästinensischen Volkes anprangern. "Miral" ist sein bildgewordener Enthusiasmus. Eine politische Stellungnahme und genau deshalb im Endeffekt enttäuschend. Ein Anliegen zu haben ist alles andere als verboten. Und vielleicht stimmt es tatsächlich, dass die Filme mit Anliegen immer die besten sein werden. Aber man sollte Anliegen und Agitation nicht verwechseln. Das hat Schnabel hier leider getan.

 

Mittwoch, 01.09.2010

Schwarzer Schwan greift nach Goldenem Löwen

Die 67. Filmfestspiele von Venedig werden mit Darren Aronofskys "Black Swan" eröffnet. Der Ballett-Thriller zeigt den "Wrestler"-Regisseur von einer neuen Seite und ist sofort ein Favorit auf den Hauptpreis. Und Natalie Portman darf sich schon mal berichtigte Hoffnungen auf einen Oscar machen.

Man hat es schon gehört. Aber so wirklich glauben wollte man den Kollegen dann doch nicht. Ja, die Italiener hämmern und klopfen noch, da sind die ersten Stars schon im Festivalpalast verschwunden. Tatsächlich gleicht der Festivalkomplex am Lido am Tag der Eröffnung einer ziemlich chaotischen Festung. Zwischen Zäunen, Containern und Absperrgittern schlängeln sich Polizisten, Mitarbeiter und Journalisten hindurch, um am Ende dann doch wieder umzudrehen und einen neuen Weg ins Gebäude zu suchen, weil die Tür noch nicht geöffnet wurde, oder dieses Jahr ein anderer Eingang benutzt werden soll, wobei dieser auch nicht auffindbar ist.
Aber gerade unter der Journalistenzunft herrscht Ruhe und Zufriedenheit. Kollegen, die sich sonst während der Berlinale mit preußischer Disziplin durch das Festival schlagen und jedes Organisationsdefizit sofort als Skandal bezeichnen, winken hier beruhigt ab und lachen, wenn sie über nicht weggeräumte Kabel stolpern oder wieder mal nicht ins Internet können. Es liegt vielleicht an der Aussicht, bei jedem geringsten Anflug von Festivalstress einfach über die Straße laufen und seine Füße im warmen Meer versenken zu können. Das sind sicherlich die Vorteile des Festivals in der Lagunenstadt.

Im Wettbewerb dominieren die Amerikaner

Der andere, wesentlich wichtigere Vorteil ist das Programm. Gerade dieses Jahr, in dem die Wettbewerbe von Cannes und Berlin alles andere als grandios waren, setzten viele Festivalbeobachter auf Venedig. Und tatsächlich darf der Festivaldirektor Marco Müller die neuen Filme von Sofia Coppola, Jerzy Skolimwski, Vincent Gallo, Julian Schnabel, Kelly Reichard und Takashi Miike zeigen. Und aus Deutschland wird Tom Tykwer mit seinem Berliner Dreiecksbeziehungsdrama "Drei" versuchen, den Golden Löwen zu gewinnen. Doch auch Marco Müller ist es nicht gelungen, den neuen Film von Regiemeister Terrence Malick einzuladen, den die ganze Welt erwartet und jedes Festival gerne zeigen würde. Vielleicht gibt es ihn ja doch noch zu sehen. Müller hat vor Jahren in Venedig die Tradition des Überraschungsfilms eingeführt, wo ein Wettbewerbsbeitrag erst bei der Pressevorstellung offiziell bekanntgegeben wird. Dennoch wird die Jury rund um Präsident und Cowboyhutträger Quentin Tarantino sicherlich einiges an Diskussionsstoff haben. Schließlich ist das von Tarantino so heiß und innig geliebte asiatische Kino stark vertreten. Man kann sicherlich gespannt sein, an wen am Ende die Hauptpreise vergeben werden.

Black Swan: Tanz des Grauens

Eröffnet wurde das Festival mit Darren Aronofskys mit viel Spannung erwartetem neuen Film "Black Swan". Aronosfky verbindet mit dem Festival sicherlich alle Höhen und Tiefen, die man so als Filmemacher mit einem Festival durchmachen kann. So wurde "The Fountain" hier leidenschaftlich ausgebuht und ausgepfiffen, mit "The Wrestler" gewann er dann das ganze Festival. Und an "The Wrestler" erinnert zunächst einmal auch "Black Swan", wobei letzterer noch besser ist - aber der Reihe nach.
Wie "The Wrestler" ist auch "Black Swan" der Film eines einzigen Schauspielers, in diesem Fall einer Schauspielerin, und zwar Natalie Portman. Sie spielt die New Yorker Balletttänzerin Nina, die die Hauptrolle in der Neuaufführung des Klassikers "Schwanensee" übernehmen soll. Für die Karriere der Mittzwanzigerin, die noch bei ihrer Mutter wohnt und kein Leben außerhalb des Balletts hat, ist dies die Chance ihres Lebens. Doch die Vorbereitungen auf die Rolle und das Stück werden zum wahren Alptraum. Nicht nur, dass der exzentrische Regisseur Thomas (Vincent Cassel) ihr ständig vor Augen führt, dass sie eigentlich nur den weißen Schwan, nicht aber die Rolle des schwarzen Schwanz spielen könne, so spürt Nina ständig auch den Neid ihrer Mitspielerinnen.

Die zweite Parallele zu "The Wrestler" liegt im Milieu, welches der Regisseur zeigt. Wo er davor hinter die Kulissen der Wrestling-Szene blickte und die kaputten und maroden Körper der Wrestlingstars betrachtete, so wandert er mit seiner Kamera diesmal in die Trainingsräume der Balett-Tänzerinnen. "Black Swan" spielt fast ausschließlich in Innenräumen. Bei künstlichem Licht und langen schwarzen Schatten. Es wird hier niemals hell. Und dann sind ja auch überall Spiegel. Überall Spiegel! Wenn man in den Spiegel blickt, sieht man niemals sich selbst, sondern immer denjenigen, der man gerne selber wäre.
Es geht Aronofsky von Anfang an um die Doppelbödigkeit seiner Geschichte. Sind Ninas paranoide Wahnvorstellungen echt oder doch nur ihrem Kopf entsprungen? Wird sie wirklich von Konkurentinnen bedroht oder ist es ihr selbstzerstörerischer Ehrgeiz, der sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt? Alles Fragen, die erst im letzten Bild wirklich beantwortet werden.
Es wäre gelogen zu behaupten, "Black Swan" sei keine involvierende Erfahrung. Er versteht es sein Tempo (das er bereits mit der ersten Sequenz etabliert) zu halten. In letzter Konsequenz gibt es nur Kleinigkeiten auszusetzen. Zum Beispiel gelingt es Aronofsky in seiner Horror-Suspense-Melange nicht immer, die Vorhersehbarkeit einiger dramaturgischer Ideen zu verhindern. Im Klartext: einige Schockmomente (Buh, da steht jemand hinter dir!) hätte er sich sparen können. Dennoch ist "Black Swan" ein astreiner Paranoia-Thriller geworden mit einer sagenhaften Natalie Portman, die sich schon mal getrost als erste wahre Oscaranwärterin der gerade anbrechenden Saison betrachten kann. Ihre wahnwitzige Vorstellung hätte leicht ins Lächerliche fallen können, doch ihr gelingt es, den Facettenreichtum ihrer Figur immer zu wahren. Ganz groß wird es dann aber - trotz einiger Fuß und Tanzdoubles - im letzten Drittel des Films. Denn obwohl Portman in so gut wie jeder Szene des Films anwesend ist, schafft sie genau hier nochmal die vollkommene Aufmerksamkeit der Zuschauer zu bannen. Es wäre wahrlich erstaunlich, wenn es hier am Lido im Wettbewerb noch eine ähnlich starke und enigmatische Frauenfigur geben wird.

Alkoholiker trifft Todesengel

Wie jedes große Festival besteht auch das in Venedig nicht nur aus dem Wettbewerb. Es gibt auch zahlreiche Nebenreihen. Neben der "Orizzonti" ist es vor allem die junge Autorenreihe "Venice Days", die regelmäßig für Festival-Hits sorgt. Die diesjährige Ausgabe wird vom französischen Altmeister Bertrand Blier eröffnet, der mit "The Sound of ice" den ersten Film seit fünf Jahren präsentiert. Sein Werk ist ein typischer Blier geworden: Ein ständig trinkender Schriftsteller bekommt Besuch von seinem Krebs. Nach zwei (oder waren es doch sieben?) Wutausbrüchen und Kämpfen akzeptiert der Autor seinen Besucher. Es ist eine tragikkomische Geschichte, die Blier erzählt. Und wie es sich für einen Altmeister seines Kalibers gehört, streift sie die ganz großen Themen: Liebe, Tod, Krankheit, Vatersein, Erfolg und Verlust. Die Idee vom Besuch des personifizierten Todes ist in der Filmgeschichte zwar nicht neu, aber Bliers selbstironischer Stil macht aus "The sound of ice" eine vergnüglich-sehnsüchtige Ballade, in der zwei Spätverliebte dem Tod nochmal von der Schippe springen, bzw. in diesem Falle: davon segeln. Dazu gibt es Musik von Jacques Brel und Leonard Cohen - Ne quitte me pas. In Frankreich ist Bliers Werk bereits angelaufen und erfreut sich erstaunlicher Beliebtheit. So hat er am ersten Einspielwochenende den zweiten Platz hinter dem Angelina Jolie-Blockbuster "Salt" belegt.

Menschen hinter Aquariumglas, langweilig

Ein Kassenerfolg wird der folgende "Venice Days"-Film sicherlich nicht werden, und selbst bei Kritikern dürfte er es schwer haben. In "The Life of Fish" erzählt der Chilene Mathias Bize von einem 33 Jahre alten Reisejournalisten, der in Santiago noch einmal seine besten Freunde besucht, darunter auch seine Ex-Freundin. Alle haben mittlerweile Kinder und mehr oder weniger langweilige Jobs. Nur er lebt in Berlin, reist an exotische Orte und hat weder Frau noch Kinder. "The Life of Fish" spielt an einem Abend, an dem unser Hauptprotagonist nochmal mit allen Freunden spricht. An dieser Stelle hätte der Film enden müssen.
Fast an einen jungen Robert Altman erinnernd, schwebt die Kamera durch das Haus und lauscht den Gesprächen zwischen Freunden und Verflossenen, die sich eigentlich nur noch über die Vergangenheit unterhalten. Doch dann will Bize auf Teufel komm raus noch eine Geschichte erzählen. Von einem tödlichen Unfall und von einem ehemaligen Liebespaar, das es an diesem Abend nochmal versuchen will. Am Ende ist alles für die Katz und der Film driftet in eine schmierig-kitschige Sehnsuchtsmasse, die Menschen hinter Aquariumglas zeigt. Wer sich auf solche ausgelutschten Motive verlässt, der hat die Kraft der eigentlichen Erzählung nicht erkannt.


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