Filmszene-Festival Tagebuch: Venedig 2011

von Patrick Wellinski / 3. September 2011

 

Venedig-Depesche 4

Zwischen den Welten

Die Löwen sind vergeben. Mutige Jury-Entscheidungen haben die Kritikerkollegen gespalten. Dennoch hat das vermutlich letzte Festival in der Marco Müller-Ära die hohen Erwartungen erfüllt. Das Beste was dem Festival passieren kann ist, dass Müller doch noch bleibt.

Venedig Filmfestival

Was bleibt von solch einem Festival: Bilder? Themen? Momente? Auf jeden Fall sind es Fetzen und Erinnerungen an ein Kino, das sich dieses Jahr am Lido stärker als in den vorherigen Ausgaben zwischen den Extremen bewegte.

Männer in Krisen war so ein Extrem, das fast alle Wettbewerbsfilme in den Mittelpunkt rückten. Michael Fassbender, der hier zu Recht als bester Darsteller ausgezeichnet worden ist, spielt in David Cronenbergs „A Dangerous Method“ den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung und in Steve McQueens „Shame“ einen New Yorker Sexmaniac. Als Psychoanalytiker verliebt sich Fassbender unerlaubterweise in eine Patientin. Ein innerer Konflikt, der nicht nur an seiner Berufsehre kratzt, sondern ihn auch bei seinem Kollegen Sigmund Freud in Misskredit bringt. Verlangt diese Rolle von Fassbender eine radikal minimalistische Schauspielkunst, die stark auf Nuancen achtet, so verlangt seine Rolle in „Shame“ das genaue Gegenteil. Körperlicher Exzess, harter und liebloser Sex entlang einer kühlen New Yorker Welt, in der Gefühle keinen Halt genießen, in der es keine Hilfe oder Rettung gibt. Also: Fassbender, das ist so ein Gesicht, eine Präsenz, die bleibt.  

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Es bleibt auch die Erkenntnis, dass mit dem Griechen Yorgos Lanthimos seit langer Zeit endlich wieder ein interessanter, radikaler Filmemacher aus Europa entdeckt wurde, der sich spätestens mit seinem neuen Film „Alpis“ (ausgezeichnet für das beste Drehbuch) einen Autorenstatus erarbeitet hat. Wie schon sein für den Fremdsprachen-Oscar nominierter letzter Film „Dogtooth“ schildert Lanthimos in seinem neuen Werk eine Welt, die unserer zwar ähnelt, aber in der die Personen sich nach ganz skurrilen – mitunter auch radikalen und brutalen – Regeln bewegen. Eine ominöse Gruppe mit dem Namen Alpis bietet Hinterbliebenen an, die Toten zu ersetzen. Dazu schlüpfen die Mitglieder in die Rollen von Kindern, Ehemännern und Großmüttern. Alles nur, um den Hinterbliebenen für einen Augenblick den Schmerz zu nehmen, damit die schwierigste Trauerphase nicht ganz so schwierig wird. Doch eine Krankenschwester, auch Mitglied der Gruppe, durchlebt ebenfalls eine Zeit der Trauer. Ihre Hilflosigkeit durchzieht den traurigen Film wie eine Art Schleier. Man fragt sich, wer wohl den Engeln hilft, wenn sie Trauer tragen.

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Die Jury um Regisseur Darren Aronofsky hat interessante Entscheidungen getroffen. Natürlich war die Liste der guten Filme wieder zu lang, so dass man traurig darüber ist, dass Steve McQueens „Shame“ bis auf den Darstellerpreis für Fassbender umgangen worden ist. Oder dass man die interessanten neuen Werke der bekannten Namen wie Polanski, To, Cronenberg oder Alfredson nicht mit Preisen bedacht hat. Vielleicht waren sie der Jury zu mainstreamig, vielleicht wollten sie mit ihren Entscheidungen auf ein anderes Kino hinweisen, ein Kino, das sich nicht vor der Strahlkraft einer Hollywoodproduktion mit Stars und Sternchen verstecken muss.

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So versteht sich wohl auch der Regiepreis an den Chinesen Cai Shanjun für seinen Überraschungsfilm „People Mountain, People Sea“, ein minimalistisches Rachedrama im heutigen China, das aber in seiner Bildkomposition einen klaren Bezug zu Western aus der Ära eines John Ford herstellt. Lange, ungeschnittene Sequenzen, die in exquisiten Deep-Focus-Aufnahmen nur durch die Bewegungen der Figuren oder einen kurzen Schwenk der Kamera ihre ganze Dramatik entfalten. Man muss so etwas auszeichnen, um zu zeigen, dass die Kraft eines Westerns auch in einem anderen kulturellen Kontext funktioniert.

Wäre dies ein Film aus den USA, würden bereits die Oscarglocken kräftig klingen und die Presse würde einen neuen Stern am Regiehimmel besingen. Doch da Cai aus China kommt und ein großes Publikum die Einöde Ostchinas nicht derart degoutieren wird wie die bereits bekannte Weite der amerikanischen Prärie, bleibt ihm vielleicht nichts außer diesem Preis. Und natürlich die Gefahr in seiner Heimat mit einem mehrjährigen Berufsverbot bestraft zu werden, da Cai „People Mountain, People Sea“ an der Zensurbehörde vorbeigeschleust hat. Zu hart die Kritik an den Arbeitsbedingungen in einer Mine, die in einer brutalen letzten Einstellung kulminiert. Das hätten die Zensoren nie durchgewunken.

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Zufrieden darf man ebenfalls mit dem Preis für die beste Kameraarbeit sein. Der ging an den Kameramann Robbie Ryan, der es gemeinsam mit Andrea Arnold schaffte Emily Brontes Klassiker „Die Sturmhöhen“ jeglichen romantischen Ballast zu nehmen. Der Film ist das minimalistische Extrem eines Kostümfilms. Keine lieblich-verkitschte BBC-Adaption. Nur unbekannte Laiendarsteller, die Dialogfetzen von sich geben, die nichts mehr mit der Vorlage zu tun haben („You cunt, go fuck yourself“). Alles hier ist kalt, aber sehr präsent. Mit wenigen Nahaufnahmen von Pferderücken, welken Blumen, Fingerkuppen, transportiert der Film dann doch den Kern dieser Geschichte, ohne ihn unnötig zu bagatellisieren.

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Völlig verdient gewann auch Deannie Ip den Darstellerinnenpreis für ihre großartige Rolle als sterbende Dienerin in Ann Huis unsentimentaler Lebensabschnittsbetrachtung „A simple Life“. Wenn der Kritiker nur einen Wunsch frei hätte, so würde er sich wünschen, dass ein deutscher Verleiher den Mut aufbringen würde dieses Juwel in die deutschen Kinos zu bringen. Ann Huis Film muss von einem großen Publikum gesehen werden. Er ist ein Lakmustest an unsere Menschlichkeit und der Beweis, dass das Kino das Leben einfangen kann wie keine andere Kunst.

Übrigens: Deannie Ip ist in ihrer Heimat ein bekannter Popstar. Eine Sängerin also, die schon des Öfteren als Schauspielerin erster Güter glänzte. Wenn man sich dagegen an deutsche Popstars erinnert, die sich auf der großen Leinwand ausprobiert haben … Lass wir das.

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Bevor wir zum großen Gewinner kommen, sollten wir erwähnen, dass mit Emanuele Crialeses „Terraferma“ zum ersten Mal seit vielen Jahren ein italienischer Film einen der wichtigsten Preise des Festivals ergattern konnte. Crialeses Film stieß unter den Kollegen nur auf wenig Gegenliebe. Gutmenschenkino, Kino mit Botschaft, ein Film, der ein rein italienisches Problem verhandelt – so die allgemeine Stimmung. Doch Crialeses sehr wütend erzählte Geschichte über das Problem der afrikanischen Flüchtlinge im Mittelmeer ist gar nicht so schlecht.

Es stimmt, die Konflikte sind hier sehr grob gezeichnet, die Stellung des Regisseurs etwas zu aufdringlich inszeniert, aber ist der Flüchtlingsstrom aus Afrika nach Europa wirklich ein rein italienisches Problem? Spiegelt sich in solchen Aussagen nicht genau jene Arroganz, die schon Regierungschefs wie Sarkozy und Merkel zeigten, als sie verkündeten, dass Italien mit den Flüchtlingen aus Tunesien selber fertig werden müsste? Nein – und in der Hinsicht ist „Terraferma“ dann doch gelungen – so leicht ist es nicht. Europa ist an seinen Grenzen nicht die großartige Verheißung, nicht der Luxus und der Friede den sich die Flüchtlinge erhoffen. An seinen Rändern ist die Europäische Union ein verängstigtes und gewalttätiges Fort, das niemanden mit offen Armen erwartet. In dieser Wut hat Crialese keinen italienischen, sondern einen rein europäischen Film gedreht.

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Was für einen Film hat der Russe Alexander Sokurov gedreht? Er hat „Faust“ verfilmt, Goethes Faust. Das kann man noch ruhigen Gewissens sagen. Er hat damit die Jury wohl überzeugt, die den Film nach eigenen Angaben zwei Mal gesehen hat und ihm daraufhin den Goldenen Löwen zusprach. Und hier hört die Sicherheit auf. Alles andere, was man über diesen Film erzählen soll, lässt sich nur schwer in Worte fassen. Weil es hier nichts zu fassen gibt. Sokurov hat den Faust stark entmystifiziert. Dieser Faust ist kein Suchender mehr, der nach der Lösung des großen Geheimnisses der Existenz sucht. Er ist Arzt, hat Hunger und ist ständig knapp bei Kasse. Schon bald wandern er und ein Händler (schöne Mephistopheles-Variation) durch diese gelb-grüne Welt, die Sokurov zwischen mittelalterlicher Realität und absoluter Künstlichkeit ansiedelt. Ein Film voller vollgestopfter Flure, Häuser und geheimnisvoller Wälder. Sokurov treibt es hier wild (auch mit deutschen Darstellern, u.a. Hannah Schygulla) und ordnet alles seiner Vision unter.

„Faust“ ist der Abschluss seiner „Moloch-Taurus-Sun“-Tetralogie, in der er nach dem Wesen der Machtbesessenheit von Diktatoren wie Kaiser Hirohito, Hitler und Lenin forschte. Mit Faust fasst er alles zusammen und führt vieles weiter. Ein hermetischer Film, der gar nicht entschlüsselt werden will. Das Geheimnis der wilden Bilder, das wurde hier ausgezeichnet, aber auch eine vollkommene Autorenvision, die nichts kennt außer sich selbst.

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Ein Ausblick: Was wird aus dem Festival, wenn Marco Müller nicht mehr sein Leiter sein sollte? Schwer zu sagen, man mag sich das gar nicht vorstellen. Müller programmiert hier seit Jahren einen Wettbewerb, der das radikale Arthouse-Kino neben experimentellen Werken und klassischen Mainstream stellt. 21 Filme im Wettbewerb, das bedeutet hier 21 Mal Kino in all seinen Facetten. Aber genau dafür sollten Festivals da sein, sie sollten die ganze Palette mutig nebeneinander stellen und gucken wie sich die unterschiedlichen Visionen gegenseitig befruchten. Nach dem ultimativen Rezept für die Kinokunst hat Müller am Lido gesucht. Bisher hat er es nicht gefunden, aber dieses Jahr war er verdammt nah dran.

 

Venedig-Depesche 3

Memento Mori
 
Brutal und unnachgiebig zwingt das Kino der 68. Mostra den Zuschauer zur Auseinandersetzung mit dem Tod, dem Sterben und fordert ihn ständig dazu heraus, seine Rolle und Einstellung gegenüber dem Leben zu überdenken. Die Zeit dazu hat man hier auch, und zwar immer dann, wenn wieder einmal die Technik streikt.
 
Wir waren kurz davor, uns nicht mehr über die Organisation am Lido zu beschweren. Doch die gestrigen Eskapaden nahmen derart skurrile Formen an, dass nun wieder etwas geschimpft werden muss: 
Es wurden für diese Ausgabe der Mostra viele Verbesserungen angekündigt. Besseres WiFi, mehr Plätze in der Sala Grande, keine Ausfälle bei den Projektionen und vor allem sollten hier alle Dächer abgedeckt sein, damit es nicht reinregnet. Und all die Versprechungen hielten auch bis zur Mitte des Festivals. 
Doch bei der Vorführung des Überraschungsfilms um 9 Uhr ging es dann Schlag auf Schlag. Das Screening musste nach dem Vorspann abgebrochen werden. Dann wurden alle Vorführungen in diesem Saal bis zum Ende des Festivals abgesagt, da der Projektor kaputt sei. Anschließend wurden alle Pressevorführungen des neuen Abel Ferrara-Films abgesagt und kurzfristig zu einer einzigen um 23.30 Uhr zusammengelegt. 
 
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Venedig Filmfestival
Irgendwann war man nur noch glücklich, dass der Überraschungsfilm am Nachmittag in einem anderen Saal beginnen konnte. Wie schon so oft auf dem Lido kommt der film sorpresa auch dieses Jahr aus China. Marco Müller, der Festivalleiter, ist Sinologe und hat eine ausgesprochene Affinität zum asiatischen Kino. Auch deshalb ist hier fast jeder Überraschungsfilm ein Asiate und daher fast gar nicht mehr überraschend. Dieses Jahr heißt der Film „People Mountain, People Sea“ des Regisseurs Cai Shangjun. Ein in berauschend klar komponierten Bildern verrätselter Western, der im heutigen China spielt. Die Rache-Geschichte folgt den Brüdern eines Erstochenen, wie sie nach dem Mörder im chinesischen Hinterland suchen. 
Doch kaum war man sich sicher hier einen richtig tollen Film zu sehen, stürmten plötzlich aus der großen Sala Darsena ohne Grund die Massen aus den Notausgängen. Lange Zeit war unklar, was passiert war, die Lichter gingen an. Die Jury um Präsident Darren Aronofsky wurde vorsichtshalber schon aus dem Saal gebracht, bis schließlich eine Frauenstimme vom Band von einer Verzögerung sprach. Erst einen Tag später haben wir von einer britischen Kollegin erfahren, dass wohl in einem Scheinwerfer eine fröhlich vor sich hin brutzelnde Maus zu einem Kurzschluss mit Rauchbildung geführt hatte. Man darf sich aber durchaus fragen, warum nicht das ganze Publikum evakuiert wurde und wieso es gar keinen Alarm gab … Nun gut: Irgendwann wurde der Film dann wieder abgespielt, aber der Seherfahrung war das im Nachhinein nicht wirklich zuträglich. 
 
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Das Kino kann manchmal so grausam sein. Wenn man ein, zwei Filme über das Sterben sieht, dann ist man gewillt noch keine großartige Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Aber wenn man hier auf der Insel sieben oder acht Filme zu sehen bekommt, in denen schmerzhaft genau der letzte Weg eines Menschen gezeigt wird, dann zwingt einen das Kino geradezu, sich selbst mit der eigenen Einstellung gegenüber dem Sterben und dem Ende auseinander zu setzen. Die Richterin aus Philippe Loirets „Toutes nos envies“ (Sektion Venice Days) zum Beispiel erfährt, dass sie einen unbehandelbaren Hirntumor hat. Die junge Frau steht in der Blüte ihres Lebens, hat einen lieben Mann, zwei Kinder, ein Haus und hat gerade einer Mutter aus dem Kindergarten ihres Sohnes vor Gericht geholfen aus einem Knebelvertrag mit einer Kreditfirma zu kommen. Doch nun muss sie sich damit abfinden, dass dies alles in weniger als einem Jahr zu Ende gehen wird. 
Loirets sehr fein aufgebautes Drehbuch investiert viel Kraft dafür, hier keine Leidensgeschichte zu inszenieren wie es Andreas Dresen mit „Auf halber Strecke“ getan hat. Loirets Anwältin beschließt nämlich niemandem von ihrer Krankheit zu erzählen und stürzt sich mit einem Kollegen in die Arbeit. Denn die Kreditfirma geht ständig in Berufung und will ihr Urteil aufheben lassen. 
Und so rückt in „Tous nos envies“ ruhig und langsam nicht mehr die Todkranke in den Mittelpunkt, sondern ihr Kollege, der als einziger zufällig vom Gesundheitsstand seiner Freundin erfährt. Er ist es, der – so wie wir – seine Einstellung zum Tod unerwartet hinterfragen muss. Das Schicksal seiner Kollegin und Freundin zwingt ihn den Blick auf die Umwelt zu ändern. 
 
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Die Akzeptanz des Todes und des eigenen Schicksals ist auch ein Thema im neuen Film des Kanadiers John Marc Vallée. „Café de Flore“ ist ein Film, der auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen spielt. Die eine ist die Geschichte einer Frau im Paris der 60er Jahre (gespielt von Vanessa Paradis), die bewusst ein Kind mit Down-Syndrom auf die Welt bringt, obwohl man ihr zur Abtreibung rät. Sie beschließt ihr ganzes Leben dem Glück ihres Sohnes zu widmen. Doch als dieser sich unsterblich in eine Schulkameradin (auch sie mit Down-Syndrom) verliebt und sich zunehmend von den täglichen Ritualen mit der Mutter löst, bricht für sie eine Welt zusammen. 
 
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Die andere Zeitebene spielt im heutigen Kanada und folgt einem Electro-DJ, der sich gerade von seiner ersten Frau getrennt hat. Mittlerweile hat er eine neue Geliebte, doch das geteilte Sorgerecht für die Kinder aus erster Ehe führt dazu, dass er regelmäßig seiner Ex-Frau begegnet. Sie wiederum kann nicht von ihm lassen und ist immer noch überzeugt, er würde vielleicht irgendwann zu ihr zurückkehren. Vallée lässt lange offen, wie die vollkommen unterschiedlichen Geschichten zusammenhängen und tatsächlich wirkt die letztlich esoterisch überhöhte Zusammenführung einiger Erzählstränge gegen Ende an den Haaren herbei gezogen. Aber beide Geschichten sind für sich genommen emotional aufwühlende Schilderungen verhinderter Lieben, die in der Vergangenheit aber auch Gegenwart jeweils zu tragischen Entscheidungen führen, die nie wieder rückgängig gemacht werden können. 
Wie schon im Loiret-Film entwickelt sich auch bei Vallée allmählich eine Nebenfigur zur wahren Heldin, und zwar die erste Frau des kanadischen DJs. Sie kann nicht loslassen, erinnert sich an die erste große Liebe, die ihr Mann für sie gewesen ist. Erst wenn sie akzeptiert, dass der Mensch seine Vorstellung des Glücks nicht erzwingen kann, kann die ganze Erzählung mit ihren Schicksalsdrohungen zur Ruhe kommen. Auch wenn das letzte unerbittliche Bild des Films die ganzen Entwicklungen fast schon willkürlich auf den Kopf stellt.
 
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Auch im Wettbewerb Todesfilme wohin man blickt. In ihrem zweiten – süßlich verkitschten – Film „Huhn mit Pflaumen“ erzählt die in Frankreich lebende Exil-Iranerin Marjane Satrapi („Persepolis“) von einem iranischen Geiger (Mathieu Amalric), der eines Tages beschließt zu sterben. Acht Tage nach dem Beschluss ist er auch tot. Erst jetzt wird in kleinen verschachtelten Rückblenden die Geschichte seiner letzten Tage erzählt, die auch dazu dienen auf das Verhältnis des Geigers mit seiner Familie einzugehen. 
Die Inszenierung ist eine wilde, bezaubernde, manchmal dann doch zu bunte Mischung aus Kostüm-, Kinder- und Zeichentrickfilm, der mit Einstellungen dicker weißer Schneeflocken an „Amelie“ erinnert. Doch wie schon in ihrem Erstling „Persepolis“ erzählt Satrapi hier vom Gefühl des Exils. Die große Liebe des Geigers, eine Frau mit dem Namen Iran, die er nie heiraten konnte, ist eine bewusste Assoziation an das Heimatland der Regisseurin. Anders als bei „Persepolis“ hat man hier jedoch das Gefühl, dass Satrapi nicht nur von ihrer eigenen Situation spricht, sondern einen Film über ein allgemeines Gefühl der ewigen Heimatlosigkeit gedreht hat.
 
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Sterben, das wird auch die Dienerin in Ann Huis Lebensabschnittsbetrachtung „A Simple Life“. Die Regisseurin folgt der alten Frau, wie sie einen Schlaganfall erleidet, wie sie selbst entscheidet in ein Altenheim zu gehen und dort unter den vielen skurrilen Bewohnern ganz still und leise zur heimlichen Organisatorin des Altheimhaushalts aufsteigt. Es ist ein derart beiläufiger, bescheidener und zurückhaltender Film, dass man gar nicht merkt, wann uns hier alle Figuren ans Herz wachsen. Ann Hui macht ein Kino, dass an die zenhaften Alltagsstudien eines Edward Yang oder Yasujiro Ozu erinnert. Hier werden keine Konflikte oder Spannungsbögen inszeniert, keine Skandale künstlich dramatisiert –  was sich hier vor unseren Augen abspielt, das ist das reine Leben, wie es so hypnotisierend kein noch so guter Dokumentarfilm oder Roman einfangen kann. In seiner puren Reinheit und Magie ist „A simple life“ eine tief bewegende Erfahrung geworden. Ein Film, der hier zu den ganz großen Favoriten auf den Hauptpreis zählt.
 
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Venedig Filmfestival
 
Noch mal zum Thema Ende des Lebens: Der eindrucksvollste Film über die Akzeptanz des Todes und der eigenen Sterblichkeit kommt dann aber doch aus Brasilien und heißt „Historias que so existam quando lembradas“ (Sektion Venice Days). Die Regisseurin Julia Murat zeigt zunächst einmal nur das Leben einer alten Dame, die in einem kleinen Dorf tief im brasilianischen Urwald wohnt. Ihr Leben besteht und bestand wohl aus den immer gleichen Routinen: Früh aufwachen, Brot machen, Brot zum Bäcker bringen und in die Auslage stellen, dann der übliche Streit mit dem Bäcker über dieses Aufstellen, Besuch der Messe, Blumengießen am Grab ihres Mannes, Essen in der Pfarrei und schließlich der wohl verdiente Schlaf. 
Erst als eine junge Fotografin auf Durchreise bei der alten Dame für paar Tage bleibt, wird dieser Kreislauf ein wenig unterbrochen. „Historias …“ beeindruckt durch seine zirkuläre Struktur und seinen lakonischen Humor, der aus der Welt eines frühen Jim Jarmusch zu kommen scheint. Doch das Klima des Films ist durchzogen von der ständigen Erwartung des Todes. Alles verweist darauf, dass die alte Dame bald sterben wird, dass sie aber aus ihrem Alltag nicht entfliehen kann. Darauf verweist auch die Fotografin und ihre Arbeit. Die Fotografie fängt den gegenwärtigen Zustand eines Objektes ein, verdeutlicht aber im gleichen Augenblick seine Vergänglichkeit. 
Nichts ist ewig. Und selbst die junge Fotografin, die meint, sie könnte durch ihre Funktion als Chronistin des Lebens dem Tod entkommen, wird in der genialen letzten Einstellung eines Besseren belehrt. Sie kann hier nicht mehr weg, auch sie wird sich früher oder später mit dem eigenen Ende auseinandersetzen müssen. Wie lautet der letzte Satz des Films? „Es ist keiner mehr da, der das Brot macht.“
 

 

Venedig-Depesche 2

Was ihr wollt

Die Aufmerksamkeit liegt meistens auf den Filmen, die es nicht verdient haben. Auch bei großen Festivals wie hier in Venedig, die sich doch eigentlich der Kunst des Filmemachens widmen, bekommen Filme mit Stars und Sternchen ungerechterweise mehr Aufmerksamkeit als ihnen zustehen sollte. Manchmal gelingt es ihnen aber doch, sich diese Beachtung wirklich zu verdienen.

Ist schon seltsam wie das Leben hier auf diesem Festival so verläuft. Die üblichen Interessen gegenüber dem täglichen Nachrichtenzyklus verblassen jedenfalls vollkommen. Leichtathletik-WM? Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern? Kümmert hier nicht. Und eigentlich ist das auch gut so, denn nicht umsonst sind wir hier auf dieser überteuerten Insel in Italien. Das weiß auch die Kollegin, die einem in der Schlange zu David Cronenbergs „A Dangerous Method“ ihr Smartphone unter die Nase hält und die Spiegel Online-Schlagzeile vorliest: „Schröder nimmt Merkel in Schutz.“ – Da will man doch gar nicht mehr zurück, oder?

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Überhaupt fragt man sich hier sehr häufig, für wen man das alles macht? Warum sitzt man in einem Madonna-Film, der noch dazu unsäglich überfüllt ist, obwohl man mit einem Fünkchen Kritikerschachverstand wissen müsste, dass einen hier nur Murks erwartet. Die Antwort ist aber sehr simpel. Weil es die Redaktionen interessiert. Weil Madonna sich verkauft und weil man meint, es wäre wichtig. Außerdem sind Hollywood-Stars ganz wichtig, weil die sich erst recht verkaufen. Die Aufmerksamkeitsverteilung auf solchen Festivals funktioniert nun mal nach den ganz profanen Regeln des Marktes. In diesem Sinne sind wir dann doch wieder mitten drin im täglichen Nachrichtenzirkel, sind sogar ein kleiner Teil von ihm. Zudem ist es ganz wichtig, will uns ein Radio-Kollege überzeugen, dass man über die Filme spricht, die irgendwann zu Hause anlaufen. „Das interessiert die Leute.“ Na gut, dann schreiben wir darüber, was interessiert.

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Cronenberg interessiert, weil er sicherlich in die deutschen Kinos kommen wird. Auch weil zum Teil in Köln gedreht wurde und er mit Michael Fassbender, Viggo Mortensen und Keira Knightley gleich drei Stars von Weltformat aufbieten kann. „A Dangerous Method“ ist – so wie Polanskis „Carnage“ – eine Verfilmung eines Theaterstücks, in diesem Fall „The Speaking Cure“. Es schildert die komplizierte Kollegenbeziehung der beiden Begründer der modernen Psychoanalyse Sigmund Freud und Carl Gustav Jung und ihrer Patientin Sabina Spielrein.
Cronenberg hat ein klassisches Period Piece gedreht, ein Film der stark von den Dialogen geprägt ist und sich sehr genau mit den Grundsatzkonflikten dieser Dreierbeziehung auseinandersetzt. Es ist aber auch ein sehr atypischer Cronenberg geworden. „A Dangerous Method“ wirkt geradezu wie die Invertierung eines Cronenberg-Films. Es verweist nichts mehr auf die zirkulären Erzählstrukturen, biologischen und transgressiven Momente, die die Filme des kanadischen Autorenfilmers bisher immer dominierten. Vielleicht hat der Film deshalb am Lido viele irritiert. Man mag ihn hier tendenziell, wenn auch keiner so recht auf den Punkt bringen kann warum. Uns gefällt die angespannte Atmosphäre der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die der Film auf sehr entspannte Art und Weise einfängt. Bevor die Psychoanalyse als eine der wichtigsten Theorien der Moderne die Welt verseuchen wird, wie es Freud hier einmal andeutet, werden zwei Weltkriege das Weltgefüge massiv verändern. Freud und Spielrein werden die Auswirkungen ihrer Arbeit nicht mehr erleben. Diese prophetische Spannung, die hier ganz unterschwellig mitschwingt und nie dramaturgisch ausgenutzt wird, ist sicherlich die beste Leistung des Films.

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Viel mehr Stars hat der neue Steven Soderbergh-Film „Contagion“ zu bieten und sollte dann wohl ebenfalls von hohem Interesse sein. Der Regisseur von „Traffic“ inszeniert wieder einen flirrenden Episodenfilm rund um eine ausgebrochene Grippe-Seuche, die reihenweise Menschenleben kostet. Gwyneth Paltrow spielt die erste amerikanische Tote. In einer Szene wird ihr während der Autopsie das Hirn offengelegt und die Stirn über die Augen gestülpt. Die Ärzte führen nach einem angeekelten Blick in das Hirn folgenden herrlichen Dialog: „Shall I call anyone?“ „Call everyone.“
Das ist die absurdeste und daher auch befreiendste Szene in diesem Katastrophen-Film, bei dem Steven Soderbergh bewusst auf jegliche Überdramatisierung verzichtet. Das weiß dann durchaus eine Weile zu gefallen, denn man springt sehr schnell zwischen allen Kontinenten hin und her, sieht Überwachungsaufnahmen und Close-Ups von Händen und Türgriffen – all das soll die möglichen Übertragungswege des Virus‘ visualisieren. Außerdem lässt Soderbergh viele Stars auftreten, erst lässt Laurence Fishburne Kate Winslet durch die USA reisen und nach den Ursachen der Krankheit suchen, dann wird Marion Cotillard als WHO-Ärztin in Hong Kong entführt, Jude Law spielt eine Art investigativen Blogger (mit lächerlichen Julian Assange-Anklängen) und es wandert auch der dicke deprimierte Matt Damon als Witwer durch Bild.
Potenzial hat die Geschichte, es ist nur schade, dass Soderbergh keine Idee hat. Er hat nichts zu sagen über das Chaos eines globalen Krisenmanagements, was wir nicht schon nach der Vogel- und Schweine-Grippe oder EHEC-Krise bereits wüssten. Es wirkt fast so, als käme dieser Film zu spät, als hätte ihn die Realität überholt und ihm alles Kommentierende und Wissende entrissen.

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Von Interesse, und diesmal völlig zu Recht, dürfte dann auch der neue Film des Schweden Tomas Alfredson sein. Nach seinem Teenager-Vampir-Film „So finster die Nacht, wechselt er nicht nur das Genre, sondern auch noch das Budget und die Inszenierungssprache. Er hat mit „Tinker, Taylor, Soldier, Spy“ einen der bekanntesten John Le Carré-Romane verfilmt und das mit einer britischen Darstellerriege, die das Beste versammelt, was man kriegen konnte.
Im Kern geht es in dieser Spionage-Geschichte um die akribischen Nachforschungen eines MI6-Agenten (Garry Oldman), der während des Kalten Krieges einen Maulwurf an der Spitze des britischen Geheimdienstes enttarnen will. Das wirklich Tolle an diesem Film ist das unsagbar detaillierte Gespür für Atmosphäre und Ausstattung. Der Film spielt in dunklen, schlecht ausgeleuchteten Bunkern. Die Kamera gleitet durch verrauchte Altherrenhäuser. Und mitten in dieser Atmosphäre der gegenseitigen Beschattung und des Verrats bewegt sich Gary Oldman in der Rolle seines Lebens, und das entspannt und unaufgeregt, wie es nun mal die feine britische Art von ihm verlangt.
Es ist gut, dass Tomas Alfredson sich weit von der Fernsehserie entfernt, die zu den bekanntesten Adaptionen des Romans zählt. Ganz selbstverständlich springt er in seiner Inszenierung zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her, arbeitet mit Rück- und Vorblenden, so dass nur eingefleischte Fans der Romanvorlage wissen, wo es lang gehen wird. Ansonsten gibt es neben der Oscargarantie für die Kostüme, das Produktionsdesign und die Musik natürlich einen exzellenten Gary Oldman zu bewundern. Und Tomas Alfredson erweist sich als wandlungsfähiger Regisseur, der zudem sehr genau und äußerst intuitiv die britische Mentalität in wunderbar altmodische Bilder packen kann.

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So unterhaltsam wie diese drei großen Filme vermuten lassen, sind die meisten Filme hier am Lido leider nicht. Das Kino thematisiert hier auffällig häufig das Thema des Todes und der Verzweiflung, aber das machen vor allem Filme, die nicht von größerem „medialem“ Interesse sind. Von ihnen wird hier trotzdem die Rede sein, im nächsten Beitrag.

 

Venedig-Depeche 1

Fragen

Wozu überhaupt noch Kino, wenn die Welt unaufhörlich brodelt und es so viel Wichtigeres gibt? Auf den 68. Filmfestspielen von Venedig muss sich die Kunst gegen die Realität behaupten.

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Wir sind hier auf den Lido gefahren, weil wir Fragen haben, an die Regisseure, das Kino, die Kollegen – aber auch an uns selbst. Zu viel ist passiert. Die Welt hat sich in den letzten Monaten stärker gedreht, als einem das sonst so bewusst ist. Langjährige Diktaturen sind gefallen, Währungen bröckeln, Supermächte sind keine mehr. Kurzum: Unsere Ordnungssysteme sind herausgefordert. Es muss vielleicht nicht immer die vielbeschworene „Krise“ sein, die sich um uns abspielt. Aber es brodelt heftig an einigen Orten im In- und Ausland. Verschiebungen dieser Art kann man auf so viele unterschiedliche Arten angehen und deuten, dass der Ausflug ins Kino einem sicherlich nicht allzu revolutionär vorkommt.

Aber hier am Lido geht es diesmal nicht um den Eskapismus. Das große Hollywoodkino wird es nicht geben. Allenfalls nur in geringen Dosen. Der Festivaldirektor Marco Müller sagte der venezianischen Zeitung Il Gazzetino: „Ich suche nach einer Anleitung, um das Kino wieder auferstehen zu lassen.“ Ein genialer Satz, einer, den man von einem Festivalleiter wie Dieter Kosslick nie hören wird. Denn Müller trifft ins Herz der aktuellen Kinolage. Man wird das Gefühl nicht los, das Kino hätte in der letzten Zeit seine Stimme verloren. Da fehlt es an Wut und Aufbegehren, an einer Stimmung, die sich über die aktuelle Zeit legt. Es ist auch hier keine „Krise“, es ist vielmehr ein sich verstecken. Und deshalb muss man vom Kino endlich wieder mehr fordern als Unterhaltung in 3D. Mehr Ecken und Kanten, mehr Umbrüche und Ausbrüche aus den festgefahrenen Bahnen, auf denen sich diese Kunstindustrie zurzeit bewegt.

Einer, der das vielleicht auch gefordert hätte, ist nicht mehr hier. Obwohl er doch in den letzten Jahren der größte Stammgast unter den vielen Akkreditierten war. Michael Althen, der langjährige Kritiker der FAZ, der für so viele Vorbild und Ikone war, ist im Mai dieses Jahres verstorben. Die Kollegen wissen, dass das irgendwie nicht sein kann, dass jemand fehlt, und deshalb ziehen wir uns jetzt jeden Tag ein weißes Hemd an, sein Markenzeichen, auch wenn das bedeutet, dass wir uns durch schwüle und unerträgliche Hochsommertemperatur von 30 Grad im Schatten quälen müssen.

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Die Frage, die wir an die Filmemacher dieses Jahr haben, lautet: Habt ihr denn noch was Relevantes zu erzählen? Über die Welt, in der wir leben? Über uns oder zumindest über euch? Geht man mit dieser Einstellung an den Eröffnungsfilm – George Clooneys „Ides of March“ – heran, so muss man ernüchtert feststellen, dass der Hollywoodstrahlemann eigentlich nichts zu erzählen hat. Dabei wird in seinem Film viel gesprochen. Der Pressesprecher (Ryan Gosling) eines demokratischen Präsidentschaftskandidaten (Clooney) macht einen Fehler. Er trifft sich mit dem Wahlkampfmanager (Paul Giamatti) des Gegenkandidaten und riskiert damit seine Karriere.

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„Ides of March“ ist kein politischer Film. Er spielt zwar im politischen Milieu, gaukelt uns aber nur vor, dass er sich ganz kräftig mit den Machenschaften der „bad politics“ auseinander setzt. Die universelle Geschichte von Verrat, Loyalität und Gier ist dermaßen allgemein gehalten, dass sich alle potentiellen Andeutungen über mögliche Fallhöhen und Konflikte in Luft auflösen. Da ist Clooney nun mal ein zu durchschnittlicher Regisseur und noch dazu kein wirklich guter Drehbuchautor, als dass er hier seinem Stoff eine wirkliche Sprengkraft verleiht. Er geht kein Risiko ein, besetzt alle Rollen mit hervorragenden Darstellern, die keinen Fehler machen, die so aber auch nur auf Autopilot agieren. Deshalb plätschert „Ides of March“ dahin. Für das Festival dann doch eine eher enttäuschende Eröffnung.

Auf der Pressekonfrenz sagt Clooney, dass er den Film schon 2008 habe realisieren wollen. Doch dann gewann Obama die Wahl und die Euphorie im Land sei dem zynischen Grundton des Films nicht abkömmlich gewesen. Da hat er Recht. Doch ist das heute anders? Klar, die Euphorie ist weg. Aber wie wirkt ein Film wie „Ides of March“ im Hier und Jetzt? Er wirkt blass, weil (nicht nur) der amerikanische Polit- und Medienzirkus mittlerweile dermaßen absurde Formen angenommen hat, dass die liberalen Gute Welt/Böse Politik-Gedanken eines George Clooney im Vergleich zu den Aussagen einer Sarah Palin oder dem dümmlichen Herumgefeilsche über die Erhöhung der US-Staatsschuldengrenze uns nicht bewegen können. Wir wissen mittlerweile mehr über die Mechanismen und die Abläufe des Politikapparates, als uns lieb ist. Das Drehbuch zu „Ides of March“ wirkt mit seinem aufklärerischen Gestus daher etwas naiv.

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Ebenso wenig kann uns „W.E.“ von Madonna bewegen. Man will gar nicht viel schreiben über dieses Werk, dass eine wilde Mischung aus „The King’s Speech“, „The Hours“ und „A Serious Man“ zu sein scheint und dabei eigentlich das Werk einer sehr bekannten Sängerin ist, die sich auf ihre alten Tage als Filmemacherin versuchen will. Die Geschichte ist abstrus, erzählt von einer Frau im Jahr 2008, die in einer brutalen Ehe gefangen ist und sich dann in das Leben der berüchtigten Wallis Simpson hinein fantasiert. Die Beziehung zu Mrs. Simpson brachte den damaligen britischen König Edward VIII. dazu, sein Amt niederzulegen und seinem stotternden Bruder George die Krone zu übertragen.

Madonna schneidet die Leben beider Frauen gegeneinander in einer abenteuerlichen Ansammlung schrecklicher Parallelmontagen und tut gerade so, als hätte sie diese Technik gerade erst erfunden. Es ist schade, dass hierfür tolle junge Schauspieltalente vergeudet werden (u.a. Abbie Cornish und Andrea Riseborogh). Und vielleicht hatte der Produzent Harvey Weinstein ja einen Zwillingsfilm zu seinem Oscarprämierten The King’s Speech“ erwartet. Aber warum um alles in der Welt lässt er Madonna Regie führen? „W.E.“ beweist nämlich zweierlei: Zum einen erweist sich Madonna als schlechte Regisseurin, die uns nichts über die Liebe und die weiblichen Gefühlswelten zu erzählen weiß, was man nicht schon gesehen hat. Zum anderen stellt sich heraus, dass Madonna einen potentiellen Liebesfilm genauso inszeniert, wie sie über die Liebe singt: einfallslos, oberflächlich und mit einem unerträglichen Hang zum esoterischen Kitsch.

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Am deutlichsten wird der künstlerische Talentmangel von Regisseuren wie Madonna und Clooney, wenn man dann mal ein Werk eines wahren Autorenfilmers zu sehen bekommt. Roman Polanski zeigt hier seinen neusten Film „Carnage – Gott des Gemetzels“ im Wettbewerb. Es ist eine brüllend komische Komödie im Kostüm eines Kammerspiels. Kate Winslet, John C. Reilly, Jodie Foster und Christoph Walz spielen zwei Ehepaare, die sich treffen, um einen Vorfall zu klären, der sich zwischen ihren Söhnen ereignet hat.

Venedig Filmfestival

Der eine hat dem anderen mit einem Ast ins Gesicht geschlagen. Aus diesem formalen Anstandsbesuch entwickelt Polanski einen absurden, aber gleichzeitig auch äußerst bewegenden Seelenstriptease. Denn schon sehr bald fallen hier die Masken der Figuren. Die Political correctness weicht der egozentrischen Weltsicht und das schlichtende Weichei wird zum Trottel. Hier stehen sich schon bald keine Eltern mehr gegenüber, sondern Menschen, die sich ihrer eigenen Fehler bewusst werden, die all ihre Einstellungen und Werte hinterfragen.

Und so wird aus diesem exzellenten Darstellerfilm, der zum Schreien komische Momente aufweist, eine zutiefst persönliche innere Auseinandersetzung des Regisseurs selbst. Polanski hatte die Idee für den Dreh von „Carnage“, als er nicht wusste, ob nicht jeden Moment die Schweizer Polizei ihn aus dem Hausarrest in einen Flieger in die USA setzt (wo ihm nach wie vor eine Gefängnisstrafe droht). Jeder Moment in „Carnage“ zeugt von dieser inneren Zerrissenheit eines Menschen, der die Frage nach Schuld und Vergebung derart klug und hintergründig in Bilder umsetzt, dass einem jeder zweite Lacher im Halse stecken bleibt. Wer darf wem vergeben? Wo hört der Anspruch eines Einzelnen auf Gerechtigkeit und Vergeltung auf und wann verstreicht die Frist einer Schuldsprechung? Polanski offeriert hier einen Dialog. Reflektiert seine jetzige Lage und sein hochproblematisches Leben. Welcher Regisseur ist heute noch derart persönlich und direkt, ohne plump und aufdringlich zu sein? „Carnage“ ist eine Beichte, ein derart aufrichtiger und ehrlicher Film, dass er damit die wahre Kraft des Autorenkinos demonstriert.

Die Erfahrung von „Carnage“ gleicht einer emotionalen Befreiung. Sie besitzt all das, was Clooneys und Madonnas Filme nicht haben oder nur vorgeben zu haben. Polanski weckt die Lust am Kino als Raum der Erfahrung. Auch dafür sind wir an den Lido gereist.


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