Die Welt braucht Jack Bauer - "24"

von Johannes Miesen / 1. September 2011

Am Ende der dritten Staffel der außergewöhnlichen TV-Serie "24" sitzt Agent Jack Bauer (Kiefer Sutherland) alleine in seinem Auto. Die tödliche Bedrohung wurde abgewendet, die Terroristen überwältigt und die Vereinigten Staaten vor einem Anschlag unvorstellbaren Ausmaßes bewahrt. Jack Bauer hat es also mal wieder geschafft. Er musste schlagen, foltern und töten, und hat damit Tausenden von unschuldigen Menschen das Leben gerettet. Doch Jack weint. Er beginnt hemmungslos zu weinen. Er schlägt mit seinen Händen gegen die Fensterscheibe, er versucht seine Gefühle zu kontrollieren, doch er schafft es nicht. Seine Seele rebelliert, er hat an diesem Tag Dinge gesehen und getan, die er sich niemals wird vergeben können, geschweige denn vergessen. Ein Anruf kommt von der CTU-Zentrale, "wir brauchen Dich Jack, es ist dringend". Er braucht ein paar Sekunden um sich zu fangen, doch es gelingt ihm. Seine Mimik wird wieder gefasster, seine Stimme ebenfalls. "Bin gleich da", spricht er ins Funkgerät. Die Musik schwenkt um, es geht weiter. Es muss weitergehen. Jack startet den Wagen. Die dritte Staffel ist zu Ende.

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Die Faszination von "24" in nur einem einzigen Absatz darzulegen ist nahezu unmöglich, aber es sind nicht zuletzt jene Momente wie dieser, die der Fernsehserie um Federal Agent Jack Bauer den letzten Schliff Brillanz verleihen und sie damit über alle anderen am Fernsehhimmel erheben. Die Idee, eine Handlung in Echtzeit ablaufen zu lassen, ist im Grunde zwar nichts Neues. Bekannte Vorbilder finden sich in der Filmgeschichte einige, unter anderem Alfred Hitchcocks "Cocktail für eine Leiche", der Western-Klassiker "Zwölf Uhr mittags" und nicht zuletzt Tom Tykwers internationaler Durchbruch "Lola rennt", der sich ebenfalls dieses Prinzips bemächtigte. In einer Fernsehserie wurde dies jedoch nie zuvor in solcher Konsequenz umgesetzt. 

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Eine Stunde im Leben der Protagonisten entspricht exakt einer Stunde Fernsehsendezeit (also inklusive Platz für ca. 15 Minuten Werbung). Jede Staffel besteht aus 24 Folgen. 24 Stunden Echtzeit. Zwar beraubt man sich damit einerseits der Möglichkeit, Zeitsprünge in die Handlung einbauen zu können und legt sich damit einen sehr restriktiven Erzählrahmen auf, gleichzeitig gewinnt man damit jedoch ein extrem starkes Realitätsgefühl und eine beispiellose dramatische Intensität, sowohl was die Handlung, als auch die Nähe zu den Hauptfiguren betrifft. Nach ein paar Stunden "24" fühlt man sich tatsächlich in diese Welt hinein gesogen. Man verpasst praktisch keine Sekunde aus dem Leben seiner Helden und ihrer Gegner, die parallel verlaufenden Handlungsstränge sind immer wieder in Splitscreen-Aufnahmen sogar gleichzeitig zu sehen.
Ein kühnes, wagemutiges Format, dessen praktische Umsetzung fast unmöglich erscheint. Eine lückenlose Geschichte über 24 Stunden zu entwerfen, die gleichzeitig komplex, logisch und durchweg hochspannend ist, ist wohl so ziemlich der größte Alptraum, den sich ein Autorenteam nur denken kann. Umso beeindruckender, dass es eben diesen Autoren immer wieder gelingt, dieses Kunststück nicht nur zufriedenstellend, sondern auch meist auf begeisternde Art und Weise zu vollbringen.

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Das Zentrum der Handlung von "24" bildet die CTU (Counter Terrorist Unit) von Los Angeles, eine Unterabteilung der CIA, die auf die Abwehr von Terroranschlägen gegen die Vereinigten Staaten spezialisiert ist. In jeder Staffel wird stets ein bestimmtes Katastrophenszenario entworfen. Da es sich hier nahezu immer um tödliche Bedrohungen in Form eines Nuklearsprengkopfs oder eines Giftgasanschlages handelt, geht es in "24" zugegebenermaßen nicht gerade zimperlich zu, denn es steht schließlich auch eine Menge auf dem Spiel. 
Die Agenten der CTU stehen den Terroristen in punkto Brutalität in absolut Nichts nach und nutzen alle Mittel, die Ihnen zur Verfügung stehen, um diese aufzuhalten. Häufig überschreiten sie dabei auch die Grenzen der Verfassung. "24" vertritt hier eindeutig die These, dass man sich selbst die Hände schmutzig machen muss, um einer solch tödlichen Bedrohung Herr zu werden. Um die Schafe vor den Wölfen zu beschützen, muss man selber zum Wolf werden. Dies ist zentraler und unverrückbarer Grundsatz, der sich wie ein roter Faden durch alle Staffeln der Serie zieht.

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Zerlegt man die Faszination "24" in ihre Einzelteile, entdeckt man mehrere sich wiederholende Grundprinzipien, die im Verlauf lediglich geringfügig variiert werden. Ein feststehendes Element der Serie ist Atemlosigkeit. Hier passiert ständig irgendetwas, und am besten nicht hintereinander, sondern vielmehr gleichzeitig. Da kann es auch schon mal passieren, dass mal eben die Air Force One von einem Kampfflugzeug abgeschossen wird, während zur selben Zeit am Boden eine Geiselübergabe stattfindet. In "24" kommt der Zuschauer keine Sekunde zum Luftholen. Schreiber Evan Katz sagte dazu in einem Interview, er wusste, dass er gute Arbeit geleistet habe, als seine Mutter ihm erzählte, sie könne "24" nur unter Beruhigungsmitteln ertragen. Der nervliche Stress sei sonst einfach nicht auszuhalten. Eine Aussage, die so manchem treuen Zuschauer aus der Seele sprechen dürfte.

Ein weiteres Prinzip, das eben jenes rastlose Gefühl noch unterstützt, ist die permanente Unvorhersehbarkeit der Geschehnisse durch das Überschreiten der üblichen Regeln und Konventionen. "24" geht weiter als es jede andere Serie bisher getan hat. Das geht vom Umgang mit den Terroristen über das Lauern von Maulwürfen an jeder Ecke bis hin zum vorzeitigen Ableben von nahezu allen Hauptcharakteren. Jeden ereilt hier irgendwann sein Schicksal, wenn nicht in dieser Staffel dann in der nächsten. Davon ausgenommen ist wohl nur der von Kiefer Sutherland dargestellte CTU-Agent Jack Bauer. Er bildet die einzige Ausnahme der Regel, dass in "24" wirklich nichts und niemand sicher ist, kein Präsident der Vereinigten Staaten, keine liebevolle Ehefrau und auch keine Air Force One. Doch wer "24" ein wenig kennt, der ahnt bereits, dass auch Bauers Sonderstatus in diesem Punkt früher oder später aufgehoben wird und er das Ende der Serie vielleicht nicht überleben wird. Im Endeffekt wäre dies auch nur konsequent. Denn eben jenes Gefühl der Unvorhersehbarkeit kreiert im Zuschauer eine ständige innere Unruhe, der man sich tatsächlich nur schwer entziehen kann.

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Hinzu kommt schließlich, dass "24" - und damit kommen wir zum wohl wichtigsten Prinzip der Serie - den Zuschauer bewusst schockiert. Serienheld Jack Bauer überschreitet hier ständig nicht nur gesetzliche, sondern des öfteren auch moralische Grenzen. Eine ständig wiederkehrende Situation bildet hier das sogenannte "Ticking-bomb-scenario". Terroristen haben an einem unbekannten Ort eine scharfe Bombe platziert. Geht diese hoch, sind Tausende von Menschenleben gefährdet. Die einzige Möglichkeit die Katastrophe noch rechtzeitig zu verhindern, besteht im Verhören eines Gefangenen, der wertvolle Informationen bezüglich des Anschlags besitzt. Will dieser eben solche Informationen jedoch nicht preisgeben, steht man vor einem moralischen Dilemma. Wie weit darf man gehen um sich diese Informationen zu beschaffen und somit gleichzeitig das Leben Tausender unschuldiger Menschen zu retten? 
"24" gibt hierauf eine durchaus kontroverse Antwort. Folter bildet hier nicht die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Dem einen mag diese Vorgehensweise zu weit gehen, anderen mag sie als eine zwar harte, aber durchaus realistische Darstellung dessen erscheinen, was in solch einer Situation tatsächlich passieren würde (oder schon wirklich passiert ist - Guantanamo ist sicher nur die Spitze des realen Eisbergs). 

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Zu diesem Thema kann man nun tatsächlich gespaltener Meinung sein, vom Vorwurf der Glorifizierung von Foltermethoden muss man "24" jedoch eindeutig freisprechen. Die Serie zeigt die seelischen Folgen auf für jene, die gefoltert werden, aber auch besonders für die, die foltern müssen. Letztere zerstören hier auch immer einen Teil von sich selbst. Dies fällt in "24" keinesfalls unter den Tisch. Wird Folter hier als Ultima ratio in Grenzsituationen befürwortet? Ja. Wird sie glorifiziert? Ein eindeutiges Nein.

Bei solch sensiblen Themen wie Terroranschlägen und der Anwendung von Foltermethoden ist natürlich eine enorme politische Brisanz gegeben. So sah sich die Serie in den USA auch schon des öfteren mit dem Vorwurf konfrontiert, sie unterstütze indirekt anti-islamistische Vorurteile. Bei genauer Betrachtung zielt dieser Vorwurf jedoch ins Leere. In den bisherigen Staffeln zeichneten sich bei weitem nicht nur Muslime, sondern des öfteren auch schon Briten, Osteuropäer, Deutsche und sogar häufig Mitglieder der eigenen Regierung bis hin zum amerikanischen Präsidenten persönlich für Terroranschläge verantwortlich, unter anderem um die Schuld arabischen Staaten in die Schuhe zu schieben und auf diese Weise einen Kriegsgrund zu provozieren. In diesem Punkt ist "24" also hoch politisch und geht durchaus viele verschiedene Wege.

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Was jedoch letztlich den Unterschied ausmacht und "24" zu weit mehr als einer sehr guten Actionserie werden lässt, ist schlussendlich die Figur des Jack Bauer und die moralische Abhandlung seiner Person. Von Kiefer Sutherland meisterhaft verkörpert (er wurde für die Rolle schon mit dem Fernseh-Oscar Emmy und dem Golden Globe ausgezeichnet), ist Bauer so ziemlich der härteste Typ, den man sich nur vorstellen kann. Sein Job ist es Amerika zu beschützen, und des öfteren überschreitet er dazu alle gesetzlichen und moralischen Grenzen. Als beispielsweise Terroristen, in deren Händen sich eine tödliche Biowaffe befindet, den Tod von Jacks Vorgesetztem verlangen, gibt der Präsident den Auftrag an Bauer weiter. Er soll den Forderungen der Terroristen entsprechen, um die Tausenden bedrohten Menschen zu retten. Jack wird von höchster Stelle gebeten einen Vorgesetzten und Freund zu töten. Dass er damit auch einen Teil von sich selbst tötet, hindert Ihn letztendlich nicht daran es tatsächlich zu tun. 
Bauer ist der Mann, der die Drecksarbeit erledigen muss. Immer wieder agiert er dabei ohne offizielle Absicherung von oberster Stelle. Sollte er gefasst oder seine Methoden publik werden, wird man sich von ihm distanzieren und ihn fallen lassen, was auch mehrfach geschieht. Dabei sind die Auswirkungen auf seine Psyche fatal. Bauer ist praktisch unfähig eine funktionierende Beziehung zu führen, seine Tochter hält ihn jahrelang für tot, er wird heroinabhängig und hat kein festes soziales Umfeld. Es wird mehrfach angedeutet, dass Jack sich im Grunde gerne von seinem Job zurückziehen, eine Beziehung und ein ruhiges Leben führen möchte. Als sich seine Lebensgefährtin von ihm trennt, sagt sie: "Ich weiß, dass du mich liebst, Jack. Aber das Leben, das du führst, die Dinge, die du getan hast, das bist du. Du bist zu gut in dem was du tust, es ist deine Bestimmung. Davor kannst du nicht weglaufen." Sie lässt Bauer mit seinem Schicksal alleine.

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Fragt man sich nun, warum dieser das Ganze überhaupt auf sich nimmt, ist die Antwort erschreckend simpel: Weil er es kann. Die Tatsache, dass aber eben dieses Leben ihn moralisch und seelisch zerstört, macht ihn zu einer tragischen Figur. Bauer opfert sich im übertragenen Sinne für eine Gesellschaft, die ihn und seine Methoden verabscheut. Es geht vielleicht einen Schritt zu weit, ihm in diesem Punkt eine Märtyrer-Symbolik zuzuschreiben, aber ganz von der Hand zu weisen ist dies nicht. Er opfert sich für eine Allgemeinheit, die er über sein eigenes, persönliches Wohl stellt. Gleichzeitig wird er von eben jener Allgemeinheit jedoch getreten und im Stich gelassen, was Ihn dennoch nicht daran hindert seinen Kurs beizubehalten. 
Was ist Jack Bauer also für ein Mensch? Er ist derjenige, der an vorderste Front geschickt und als erster zurückgelassen wird. Jack Bauer ist der Mensch, den wir in unserer Gesellschaft nicht dulden können, den wir aber dennoch brauchen. Am Ende nämlich tut er all diese schrecklichen Dinge nicht für seine Vorgesetzten, nicht für den Präsidenten der Vereinigten Staaten oder gar für sich selbst. Er tut es für die Menschen, deren Freiheit und Leben er beschützt. Und vergisst dabei sich selbst. Eine bessere Heldendefinition wird man wohl nirgends finden.

In den USA ist vor kurzem die sechste Staffel angelaufen. Jack Bauer war 18 Monate in chinesischer Gefangenschaft. Als mehrere Anschläge die Vereinigten Staaten erschüttern, wird er zurückgeholt. Amerika braucht ihn. Noch einmal wird er schlagen, töten und foltern müssen. Bei all dem wird die Welt ihm zusehen, und seine Methoden aufs Neue verurteilen. Nur weinen, das wird Jack Bauer wieder ganz alleine tun.

Die Staffeln 1-4 sind in der deutschen Version auf DVD erhältlich. Die fünfte Staffel erscheint am 5. April 2007.


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