Heute endet das 28. Filmfest Hamburg, welches trotz Corona stattfinden konnte. Durch die Abstandsregelungen wurden zwar nur halb so viele Filme gezeigt und durften weniger Zuschauer in die Kinosäle, doch dafür konnten Filme zusätzlich zur Kinovorführung kostenpflichtig gestreamt werden. So konnten diejenigen, die keine Karte für den Kinobesuch bekamen oder sich als Risikogruppe nicht ins Kino trauten, auf dem eigenen Sofa in den Genuss des Filmfests kommen. 2020 gibt es nur den Publikumspreis, auf Wettbewerbe und Jurys und die Verleihung des Douglas-Sirk-Preises wurde verzichtet. Da die „17. dokumentarfilmwoche hamburg“ coronabedingt ausfallen musste, wurde ein Teil davon (13 Dokumentarfilme) stattdessen auf dem Filmfest Hamburg gezeigt. Das parallel zum Filmfest stattfindende „Michel Kinder und Jugend Filmfest“ fand eingeschränkt mit nur vier Filmen und ohne Kinder-Jury statt.
Das 28. Filmfest Hamburg begann visuell aufreizend mit Oskar Roehlers („Die Unberührbaren“, „Elementarteilchen“) „Enfant Terrible“ über die Filmikone Rainer Werner Fassbinder (gespielt von Oliver Masucci, „Dark“). In Episoden erzählt Roehler aus Fassbinders Leben und von den verschiedenen Facetten seiner Persönlichkeit, vom Filmemacher-Genie über den nach Liebe Suchenden bis zum Tyrannen, der alle um sich herum schikanierte. Von seiner Erstürmung des Anti-Theaters in München 1967 mit 22 Jahren bis zu seinem vorzeitigen Tod mit 37 Jahren nach 39 Filmen blickt man hier in Kulissen auf Fassbinders irres Leben. „Enfant Terrible“ gehört 2020 zur offiziellen Auswahl der Filmfestspiele von Cannes (die aber Corona-bedingt im Mai nicht stattfanden).
Fatih Akin bringt im Rahmen des Festivals sein Spielfilmdebüt „Kurz und schmerzlos“ 22 Jahre nach dessen Premiere erstmals in einer restaurierten Fassung auf die Leinwand. Akin sagt, dass er auf die Idee zur Restaurierung kam, weil „Kurz und Schmerzlos“ vor zwei Jahren auf DVD bei einer Veranstaltung des Hamburger Denkmalvereins gezeigt wurde und die Projektion durch das Alter der DVD häufig hakte. Zumal ist die DVD-Ausgabe des Films mittlerweile vergriffen.
Die komplette digitale Überarbeitung des Films war die Idee von Warner Bros. Der Film wurde neu gemixt, von Stereo auf Dolby Surround gebracht und die Kratzer und Fehler auf dem Material entfernt (unter anderem Mikrofone, die im Bild direkt oder als Spiegelung zu sehen waren) und die Farben angepasst. Durch das begrenzte Budget damals war es nicht möglich, die Farben nach Akins Vision umzusetzen, so dass ihm die Farben immer zu bunt und zu hell erschienen. Akin selbst findet seinen Erstling auch 22 Jahre später noch sehr aktuell im Zusammenhang mit dem Thema „People of Color im deutschen Film“. Warner Bros. planen nun einen Kinostart in Deutschland. Durch weniger Neuerscheinungen während Corona sieht Fatih Akin Chancen für seinen Film. Wie er sagt: „Der Film wurde fürs Kino gemacht und ich würde mich freuen, wenn der Film dann auch auf der großen Leinwand geschaut wird.“
Berührend, aber schwer erträglich, sind manche der politischen Filme des Festivals wie zum Beispiel der iranische Film „Sohn – Mutter“, der von Mohammad Rasoulof geschrieben und von der iranischen Regisseurin Mahnaz Mohammadi verfilmt wurde. Die iranische Witwe Leila kann sich, ihr Kleinkind und ihren zwölfjährigen Sohn Amir kaum über Wasser halten. Die Fabrik muss Mitarbeiter entlassen und die Kollegen verleumden sie, da Kazem, der Busfahrer der Fabrik, ihr schöne Augen macht. Als er ihr einen Heiratsantrag macht, bietet sich für Leila ein Ausweg aus ihrer wirtschaftlichen Not. Doch Kazem hat eine Tochter in Amirs Alter. Die Tradition verbietet es, dass beide Kinder in einem Haushalt leben. Leila wird vor die Wahl zwischen ihrem Sohn und der finanziellen Sicherheit für sich und ihre Tochter gestellt und muss eine Entscheidung treffen, bei der es nur Verlierer gibt. Zu Beginn wird der Film aus der Sicht der Mutter gezeigt und im weiteren Verlauf aus der Sicht des zwölfjährigen Sohnes.
Wie die Filmemacherin im Anschluss in einem Videointerview sagte, handelt es sich hier um ganz typische Entscheidungen, die im Iran zum Alltag gehören und mit deren unmenschlichen Auswirkungen viele Familien zu kämpfen haben. Sie wünscht sich, dass ihr Film auch im Iran gezeigt werden könnte. Die Situation im Iran ist seit vielen Jahren ein Thema des Filmfest Hamburg und auch Mohammad Rasoulof war hier zu Gast, als er noch ausreisen durfte.
Das Festival wird am 3.10. beendet mit dem vor kurzem bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichneten Film „Nomadland“, von der in den USA lebenden Chloé Zhao („The Rider“). Zum dritten Mal ist die in China geborene Regisseurin mit einem Film bei Filmfest Hamburg zu Gast: Nach „Songs My Brothers Taught Me“ (2015) und „The Rider“ (2017) - ausgezeichnet mit dem „Art Cinema Award“ des Festivals - feiert auch „Nomadland“ Deutschlandpremiere in Hamburg.
Francis McDormand („Fargo“, „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“) spielt Fern, die nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch einer Konzernstadt im ländlichen Nevada ihren Job, ihren Mann, ihr Zuhause verliert und sich in ihrem Van aufmacht, ein Leben als Nomadin zu führen. Die Protagonistin drückt es so aus: „I am not homeless, I am houseless“ („Ich bin nicht obdachlos, ich bin hauslos.“) Der Film zeigt die echten Nomaden Linda May, Swankie und Bob Wells als Ferns Begleitung bei ihrer Erkundung der Landschaften des amerikanischen Westens.
Wie auch in „The Rider“ versinkt das Publikum in unglaublichen Landschaftsaufnahmen der amerikanischen Wildnis. Diesmal wird sogar noch weniger gesprochen, sondern viel über Gesichtsausdrücke und Bewegungen und Körperhaltungen erzählt. „Nomadland“ berührt, rührt zum Lachen und zum Weinen und zeigt Frances McDormand ungeschönt auch beim Pipimachen im Schnee draußen und beim Nacktbaden im Fluss.
Die Personen, die Landschaften, die herrliche Klavierbegleitung und das Einweben von Shakespeare-Zitaten ergeben zusammen ein facettenreiches Bild auf das Leben älterer Amerikaner, deren Rente nicht zum Leben reicht, die aber mit Erfindungsreichtum überleben, sich eine Gemeinschaft suchen und die amerikanische Natur erfahren. „Nomadland“ feierte dieses Jahr seine Uraufführung in gleichzeitigen Vorführungen bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig und dem Toronto International Film Festival.
„Bas les masques!“ – lautet ein französischer Spruch, der dazu auffordert, die Masken fallen zu lassen, um die Wahrheit sichtbar zu machen. Das war laut Festivalleiter Albert Wiederspiel auch 2020 der Anspruch an die Filme des Filmfests - sie sollten die Wahrheit zeigen und sich mit der Welt von Heute auseinandersetzen. Das ist gelungen, und so bleibt dem Filmfest zu wünschen, dass wir uns 2021 mit den Filmemachern auch wieder persönlich im Festivalzelt treffen und den Film in der Hansestadt auch miteinander feiern können. Bis dahin gilt das Motto des diesjährigen Filmfest Hamburg: „Filme berühren – im Kino und online“.
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