An ihre Hochzeit kann sich die achtjährige Chuyia (Sarala)
nicht mehr erinnern. Sie kauert müde und gelangweilt neben
ihrem todkranken Ehemann und seinen Pflegern auf einem Ochsenkarren,
kitzelt ihm die Füße und kriegt dafür eins auf die
Nase. Als Chuyia am nächsten Morgen aufwacht, ist sie Witwe.
"Wie lange denn?" fragt sie ihren Vater. Sein Schweigen
bedeutet: Für immer.
Chuyias
lange Haare werden geschoren, die roten Armreifen, die in Indien
nur verheiratete Frauen tragen, werden ihr abgenommen, und als einziges
Kleidungsstück dient ihr von nun an ein weißes Tuch,
zum Sari gewickelt. Auf Chuyia wartet ein karges Leben in Enthaltsamkeit,
Armut und Frömmigkeit, wie es vor 2000 Jahren in den heiligen
Texten der Hindus festgelegt wurde. Sie soll für das schlechte
Karma büßen, das zum Tod ihres Mannes geführt hat.
Chuyias Eltern bringen sie zu einem Witwenheim, in dem ein gutes
Dutzend greiser, aber auch junger Witwen ihr Dasein fristen. Die
fette Madhumati (Manorama) ist Herrscherin über das Elend,
raucht Marihuana und lässt die schöne, junge Kalyani (Lisa
Ray) anschaffen gehen, um ihre Sucht zu finanzieren. Chuyia
sorgt für Wirbel in diesem Mikrokosmos der Heuchelei und des
Leidens. Ihre Unbefangenheit und ihr Temperament erschüttern
die verknöcherten Ansichten der Frauen, die sich in ihr Schicksal
gefügt haben. Chuyia freundet sich mit Kalyani an, die von
den anderen gemieden wird. Gemeinsam begegnen sie dem jungen Rechtsanwalt
Narayan (John Abraham), der sich in Kalyani verliebt und sie trotz
ihrer gesellschaftlichen Ächtung heiraten will. Doch auf das
Paar wartet ein erschütternder Moment der Erkenntnis, und auch
Chuyia gerät in Gefahr.
Der Film spielt im Jahr 1938, vor dem Hintergrund der Freilassung
Gandhis aus dem Gefängnis und der wachsenden Zustimmung zu
seiner freiheitlichen Philosophie. Die Regisseurin Deepa Mehta zitiert
die Vergangenheit und meint die Gegenwart: In Indien, das liberale
Gesetze, aber zugleich archaische Traditionen pflegt, gibt es auch
heute 34 Millionen Witwen, deren gesellschaftlicher Status erschreckend
niedrig ist. Ihnen werden Unterhalt, Respekt und Eigenständigkeit
abgesprochen, damit sie vom Erbe und nicht zuletzt den mühsam
verdienten Mahlzeiten ausgeschlossen werden können. Überdeckt
wird diese knallharte Praxis von religiösen Floskeln, in denen
Vorstellungen des "Reinen" und des "Unreinen"
jegliche Ungerechtigkeit zementieren. Rituelle Waschungen sind Teil
dieser Vorstellungen.
Auf die Naturgewalt des Wassers, auf den Ganges und den Monsun kann
jedoch niemand alleinigen Anspruch erheben. Diese Quintessenz des
Films zeigt Mehta in berückend schönen und poetischen
Bildern, die Kameramann Giles Nuttgens kongenial
erfasst hat. Die Regisseurin vertraut ihren Darstellern, allen voran
dem Wunderkind Sarala. Liebevoll folgt sie den Geschichten der Protagonisten,
ohne die Sozialkritik in den Vordergrund zu stellen, was den Film
spannend und bewegend macht. Die Dialoge sind sparsam und präzise,
während die Songs von Bollywoods zu Recht berühmtesten
Komponisten A.R. Rahman dem Film eine zusätzliche Dimension
jenseits des Mainstream-Bollywood-Kitsches verleihen.
In dieser kanadisch-indischen Produktion sind westliche und asiatische Konventionen des Kinos zu einer erfrischenden Ästhetik verschmolzen, die jedem Cineasten guten Grund geben, sich diesen Film anzuschauen. Der Sehgenuss tröstet auch über einige Längen von "Water" hinweg. Es ist nicht nur ein anderes, sondern auch mutiges Kino, das hier präsentiert wird. Die Produktion des Films musste 2000 abgebrochen und fünf Jahre später unter Geheimhaltung in Sri Lanka wieder aufgenommen werden, da hinduistische Fundamentalisten die Dreharbeiten in Varanasi massiv behindert hatten. Deepa Mehtas Bild wurde auf den Straßen verbrannt, und Demonstranten zerstörten das Set. Der Frische, Unterhaltsamkeit und geistigen Beweglichkeit von Mehtas berührendem Film hat das - Allah, Shiva und Gott sei dank - keinen Abbruch getan.
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