Höllentour

Jahr
2004
Laufzeit
120 min
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Frank-Michael Helmke / 1. Juni 2010

Pepe Danquart ist eigentlich einer von Deutschlands renommiertesten Regisseuren. Dass er dem breiteren Publikum trotzdem kein Begriff ist, liegt daran, dass er sich vornehmlich in den weniger populären Sparten der Filmkunst bewegt: 1994 gewann er für "Schwarzfahrer" den Oscar für den besten Kurzfilm, 2000 erhielt er für seine Eishockeyfan-Dokumentation "Heimspiel" den Deutschen Filmpreis für die Beste Regie. Auf internationalen Sparten-Festivals wird Danquart in regelmäßigen Abständen gefeiert - doch breite Aufmerksamkeit gibt's eben nur für erfolgreiche Spielfilme. Darum dürfte auch Danquarts nächstes Meisterstück größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit laufen, obwohl er sich ein zur Zeit sehr populäres Thema ausgesucht hat: "Höllentour" ist eine hautnahe Dokumentation über die letztjährige Tour de France, und somit über ein Sportereignis, dass dank der Popularität von Jan Ullrich auch hierzulande Millionen Zuschauer begeistert hat.
Wer jetzt allerdings eine nach üblichem TV-Format abgewickelte Sport-Dokumentation erwartet, liegt grundsätzlich falsch: Danquarts Film fängt da an, wo konventionelle Fernseh-Reportagen aufhören, und so gibt es hier nicht nur zahlreiche Bilder, die man im Fernsehen nie zu sehen kriegen würde, sondern vor allem auch eine Erzählperspektive, für die professionelle Sportberichterstattung gar keine Zeit hat. Wie der Titel unschwer verrät, geht es Danquart um das Leiden während der Tour der France, um den Kampf der Sportler mit Erschöpfung, Verletzung und den anderen Strapazen, die tausende von gefahrenen Kilometern in drei Wochen verursachen. Weil Danquart und seine Kamera-Crew das Team Telekom begleiteten und sich entsprechend auf dessen Fahrer (vor allem die deutschen Erik Zabel, Rolf Aldag und Andreas Klöden) konzentrierten, findet hier auch keine Star-Parade statt: Das große Duell zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong ist eine Randnotiz, man sieht hier mehr von Schürfwunden als vom Gelben Trikot.
Das mag aus rein sportlicher Perspektive nicht sonderlich interessant klingen, aber hier geht es schließlich auch nicht um das brave Wiedergeben des Wettbewerbs, sondern um all das, was abseits der gefeierten Sieger passiert. Und genau deshalb wird jeder begeisterte Radsport- und Tour-de-France-Fan hier mit Details erfreut, die im TV-Trubel sonst sang- und klanglos untergehen, und bekommt das Tour-Spektakel aus einer völlig anderen Perspektive zu sehen. Danquart fängt flüchtige, aber symptomatische Motive ein, wie das Spalier aus am Straßenrand pinkelnden Radprofis oder die Schneise aus Fotografen, die am Start auf der Piste liegen; die Schönheit der herrlichen französischen Landschaften, durch die die Tour-Karawane achtlos hindurch braust, ebenso wie die merkwürdig anmutende Armada aus TV-Hubschraubern, wie sie im Tiefflug auf friedlichen Kornfeldern einfällt wie ein Invasions-Trupp. Und wenn es dann - ähnlich ungewohnt - in eigentliche Tabu-Zonen wie den Telekom-Team-Bus geht, in die Hotelzimmer der Fahrer und mit auf die Massage-Bank, dann ist man vom maßlosen Großereignis wieder ganz schnell beim kleinen, individuellen Sportler-Drama. Beim alternden Sprinter-König Erik Zabel, der sich damit auseinandersetzen muss, dass Jüngere jetzt einfach schneller sind als er. Beim ewigen Wasserträger Rolf Aldag, der still und leise von einem einzigen Etappentriumph träumt. Und beim jungen Andreas Klöden, der auf der ersten Etappe seiner ersten Tour de France in einen Massensturz verwickelt wird und schon nach wenigen Tagen verletzt aufgeben muss.
Der Schmerz wird hier groß geschrieben und in keiner Weise schöngeredet. Immer wieder dazwischen geschnittene, historische Filmclips aus der Tour-Geschichte - kommentiert von einem der führenden französischen Radsport-Journalisten - unterstreichen die Kontinuität der Qual: Auch wenn die Rundumversorgung vieles einfacher gemacht hat für die Sportler, am Ende geht es immer noch darum, sich allein mit seinem Fahrrad über zahllose Kilometer, hohe Berge und halsbrecherische Abfahrten zu quälen - und die Sturzgefahr immer im Nacken. Bei so vielen Schürfwunden und angeknacksten Knochen ist die freundschaftliche Ironie zwischen Zabel und Aldag eine willkommene Auflockerung. Immer wieder sind die Flachsereien der beiden für einen Lacher gut, und selbst wenn Zabel die eigene Vernunft in Frage stellt, geschieht das mit einem Lachen auf den Lippen: "Mit 95 Stundenkilometern auf 21 Millimeter breiten Reifen und einer klassischen Seilzugbremse einen Berg runter rasen - Ist das schlau?" Schlau ist das nicht, aber eine Extrem-Erfahrung wie die Tour de France macht man schließlich auch nicht aus Vernunftgründen mit.

Über die meisterhaft detaillierte Behandlung seines Themas hinaus (am Ende des Films meint man wirklich, jeden Aspekt des Riesen-Ereignisses Tour de France gesehen zu haben) erweist sich Pepe Danquart auch als brillanter Inszenator seines Stoffes, und erst dadurch wird "Höllentour" zu einer wirklich außergewöhnlichen Dokumentation, denn hier wird wirklich "inszeniert": Anstatt bloß die Kamera drauf zu halten, machten sich Danquart und seine Kameracrews an die akribische Suche nach den besten Einstellungen und Motiven, und wurden reichlich belohnt. Ungewöhnliche Bilder und faszinierende Details fanden sie am Straßenrand, manch aufwendige Schwenks und Fahrten begeistern allein durch ihre Ästhetik. Und auch die Entscheidung des Regisseurs, in der digitalen Nachbearbeitung die Farben etwas matter zu gestalten, erweist sich als richtig: Die wirklich extrem bunte Tour de France wird so fürs Auge wesentlich angenehmer, die Aufnahmen sind weniger aufdringlich und wirken paradoxerweise sogar natürlicher als das TV-Material. Formvollendet wird die Inszenierung schließlich durch den atmosphärischen und variantenreichen Soundtrack von Till Brönner, einer von Deutschlands führenden Jazz-Musikern, der mit seinen Kompositionen meisterhaft die Stimmungslage jeder Szene einfängt und das Gesamterlebnis "Höllentour" so entscheidend mitgestaltet.

Auch wenn das Thema eher was fürs Spartenpublikum ist und sich Nicht-Tour-Fans schwer tun werden mit dem Durcheinander aus Fahrern, Teams und Trikots: Filme wie dieser führen einem vor Augen, wie bedauerlich die Randexistenz von Dokumentationen in unserer Filmwelt ist. "Höllentour" ist ein aufwendig und aufregend inszenierter, detailreicher und faszinierender Film, der besser und hochwertiger unterhält als viele Spielfilme. Es ist ihm nur zu wünschen, dass möglichst viele TV-Tour-Fans und Radsport-Freunde ihren Weg ins Kino finden - eine äußerst gelungene Einstimmung für die nächste Frankreich-Rundfahrt wäre es auf jeden Fall.

 


10
10/10

Auch arte wiederholt ihn öfters,habe ihn lange nicht gesehen und mach mir drad nen kopp... Grüße

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