Ein klappriger Wagen, der sich in eine Wanderbühne verwandelt, zuckelt durch London. Es handelt sich um das titelgebende Kabinett des Dr. Parnassus, das sich mehr schlecht als recht über Wasser hält und normalerweise nur ein paar mäßig interessierte und zudem unhöfliche Betrunkene nach Schließen der Pubs als Publikum hat. Da können sich der insgeheim jahrhundertealte Mystiker Dr. Parnassus (Christopher Plummer), sein kleinwüchsiger Assistent Percy ("Mini-Me" Verne Troyer), seine Tochter Valentina (Lily Cole) und der junge Anton (Andrew Garfield) noch so sehr abmühen, die Geheimnisse von Dr. Parnassus' Imaginarium (wie es im Original sehr viel passender heißt) anzupreisen - den meisten entgeht, was sich wirklich hinter Parnassus' mit billiger Alufolie verhangenem Spiegel abspielt. Hier betritt man nämlich tatsächlich die Welten seiner eigenen Fantasie. Dies ist allerdings nicht ganz ungefährlich, denn es treibt sich auch der mysteriöse Mr. Nick (Tom Waits) dort herum, den mit Parnassus ein alter Pakt verbindet. An ihrem in drei Tagen stattfindenden 16. Geburtstag gehört Valentinas Seele dem teuflischen Mr. Nick, wenn sich Parnassus nicht schnell etwas einfallen lässt. Vielleicht kann ja der aufgelesene, mysteriöse Herumtreiber Tony (Heath Ledger) das Blatt zu Gunsten von Parnassus wenden....
Hollywood wird ja gerne - und durchaus ja auch zu
Recht - seine
mangelnde Kreativität und Imagination vorgeworfen. Auf den
Idiosynkraten und Hollywoodaußenseiter Terry Gilliam
trifft
dies ja bekanntlich nicht zu, dafür hat Gilliam ein
anderes
Problem: Zu viel Kreativität und Vorstellungskraft ist
auch
nicht immer gut. Was Gilliams Filme an inhaltlich wilden
und visuell
extravaganten Ideen bisweilen zuviel haben, das mangelt
ihnen ebenso
oft an Stringenz, Plot, dramatischen Spannungsbögen und
emotionaler
Bindung zu den Figuren. Wenn Gilliams wilde Kreativität
wenigstens
ein wenig in konventionelle Storyform gegossen wird,
resultiert
dies in großartigen Filmen wie "Brazil", "Der
König der Fischer" oder "12 Monkeys". Genau
so oft verrennt Gilliam sich aber in formlose Exzesse wie
sein berüchtigtes
"Baron von Münchhausen"-Desaster oder auch den
überladenen,
oft schmierenkomödiantischen "Brothers Grimm".
"Das
Kabinett des Dr. Parnassus" hat freilich neben diesem
bekannten
Gilliam-Faktor noch ein weiteres, weit publiziertes
Problem: Den
Tod von Hauptdarsteller Heath Ledger inmitten der
Dreharbeiten.
Dass dann die befreundeten Johnny Depp, Jude Law und Colin
Farrell
zusagten, Ledgers Rolle als Fantasieversion seiner Figur
zu spielen
und damit "Das Kabinett des Dr. Parnassus" davor zu
retten,
als ein weiterer unvollendeter Film in Gilliams Portfolio
einzugehen
(wie seine legendär untergegangene "Don
Quichote"-Verfilmung),
war nicht nur ein feiner Zug der drei Herren (angeblich
haben sie
ihre Gage für Ledgers kleine Tochter gespendet), sondern
klappt
auch ausgesprochen gut. Wüsste man es nicht besser, so
könnte
man diese Notlösung gar für von Anfang an geplant halten,
denn die Transformation des wirklichen Tonys hinter Dr.
Parnassus'
Spiegel in ein ihm jeweils ähnlich sehendes Alter Ego wird
mehr oder weniger gut erklärt - so gut oder schlecht wie
alle
anderen wunderlichen Ereignisse hier - und Ledger hatte
zumindest
die wichtigsten der in der realen Welt spielenden Szenen
abgedreht,
so dass dieser Aspekt des Films nicht arg zu sehr ins
Stückwerk
abgleitet.
Was dagegen klassisches Gilliam-Stückwerk ist, das ist
die
weitaus problematischere Story, die hier erzählt wird.
Eine
klassische Faust-Geschichte eigentlich, nur zu dumm, dass
Gilliam
wieder mal wenig Interesse an den Emotionen und dem
Innenleben der
Figuren hat und dafür umso mehr daran, die dünne
Hintergrundgeschichte
in möglichst wilde und extravagante Bilder zu packen. Dass
der Beginn der jahrhundertelangen Rivalität mit dem
Mephisto-Ersatz
Mr. Nick etwa in einem auf einem riesigen (CGI-)Felsen
gelegenen
Kloster stattfindet, ist gar nicht nötig, anstatt dieser
Bilder
hätte man gerne mehr über die Abkommen der beiden im Laufe
der Jahre erfahren, hätte den Konflikt lieber besser
ausgearbeitet
gesehen, um so auch mehr involviert in das Rennen gegen
die Zeit
um Valentinas Seele zu sein. Denn eben jenes Wettrennen,
um Parnassus'
Tochter vor der Hölle zu retten, kommt so gar nicht als unglaublich
wichtig herüber, auch weil der Zuschauer gar nicht so
recht
weiß, was der Guten da blüht (außer, dass es wohl
nichts Schönes ist). Da hätte eine wild visualisierte
Höllenfahrt mal Sinn gemacht, aber ausgerechnet die
verkneift
sich Gilliam.
Zudem braucht die Geschichte auch eine gute Weile, bis sie
in die
Puschen kommt, und mit knapp zwei Stunden ist ein
Gilliam-Film typischerweise
auch wieder mal ein gutes Stück zu lang geworden. Das
Filmvergnügen
befindet sich in konstanten Wellenbewegungen aufgrund des
mangelnden
Mitgefühls und Interesses an den schablonenhaften Figuren,
und eigentlich macht der Film nur dann so richtig Spaß,
wenn
Heath Ledger im Spiel ist. Der scheint sich für die
Darstellung
seines mysteriösen Tony ein wenig von einem gewissen Jack
Sparrow
inspiriert zu haben, weswegen der Übergang im ersten Trip
hinter
Parnassus' Spiegel zu Johnny Depp quasi nahtlos ist. Da
muss man
im ersten Moment schon zweimal hinschauen, um zu sehen,
dass der
Tony jetzt der Johnny ist. Jude Law und Colin Farrell
sehen Ledger
weniger ähnlich und können auch seine Manierismen nicht
so gut einfangen wie Depp, erledigen ihre Sache aber
ordentlich.
Farrell hat dabei allerdings das Pech, dass seine
Spiegelgeschichte
die schwächste ist und Gilliam-typisch zum Finale ein
wenig
aus dem Ruder läuft.
Für Ledger-Fans ist "Das Kabinett des Dr. Parnassus"
auf jeden Fall ein ganz klares Muss, gerade nicht wegen
der morbiden
Faszination des jung gestorbenen Stars, sondern weil
Ledger auch
in seinen kurzen Szenen - zweifellos wäre seine Rolle im
Normalfall
größer gewesen - eine enorme Spielfreude an den Tag legt
und beweist, dass sein Tod auch deswegen so tragisch war,
weil er
gerade dabei war, sich mit "The
Dark Knight" und diesem Film neu zu erfinden.
"Das
Kabinett des Dr. Parnassus" ist natürlich ein
Kompromisswerk
geworden, wie hätte es auch anders sein können.
Andererseits
sind das ja aufgrund der Haltung ihres Machers eigentlich
alle Gilliam-Werke,
von seinem letzten Film "Tideland" (der bei uns nie in
die Kinos kam) mal abgesehen. Kompromisse mussten
allerdings auch
sehr deutlich bei der technischen Umsetzung gemacht
werden. Denn
während die Szenen im realen London passend zur sich
gerade
so über Wasser haltenden (oder schon halb ertrinkenden)
Gauklertruppe
dreckig-speckig daherkommen, ist das klinische und oftmals
leider
auch zweitklassige CGI in den meisten Fantasysequenzen zu
eindeutig
als aus dem Rechner stammend zu erkennen.
Zwar erinnern etwa die wie ausgeschnitten wirkenden Bäume
in
der Jude Law-Sequenz an Gilliams Collagenstil aus Monty
Python-Zeiten,
aber Szenen wie Johnny Depps Trip in die
Damenschuh-Traumwelt wirken
einfach nur billig und unglaubwürdig. Da muss man schon
seine
rationale Seite, die einem ständig "schlechte CGI"
zuruft, ein wenig blockieren, um sich wirklich von Dr.
Parnassus'
Imaginarium gefangen nehmen und die Imagination schweifen
zu lassen.
Wie so gut wie jedes Gilliam-Werk wird auch "Das Kabinett
des Dr. Parnassus" die Gemüter spalten, denn es ist wieder
kein Film für jedermann geworden. Gott sei dank werden da
die
meisten sagen, denn der Versuch eines "Gilliam für
Jedermann"
in der Mainstream-Anbiederung von "The Brothers Grimm"
war ja ein Schlag ins Wasser. Aber der langsame Beginn und
die wenig
erklärte, oftmals auch wenig motiviert vor sich hin
trottende
und episodenhafte Story wird bei einigen sicher die zwei
Stunden
sehr lang werden lassen.
Sehenswert ist der Film natürlich trotz der unabweisbaren
Schwächen
dennoch geworden, eben weil Gilliam nicht auf Nummer
Sicher geht
und inmitten des Hollywoodeinheitsbreis auch ein
schwächerer
Gilliam immer noch viel viel besser ist als gar kein
Gilliam. Aber
das Meisterwerk, dass sich mancher herbeiwünscht und
mancher
herbeiredet, ist es nicht geworden, dafür hakt es doch an
zu
vielen Stellen. Womit auch Terry Gilliam beweist: Er kann
wie die
Figuren hier durch noch so viele Spiegel treten, er bleibt
doch
immer er selbst, mit allen Stärken und Schwächen.
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