Konsequenter war Kinohorror schon lange nicht mehr: "The Descent - Abgrund des Grauens" versucht erfolgreich etwas, was mittlerweile wenige Horrorfilme vorhaben und noch seltener gelingt: er will sein Publikum wirklich das Fürchten lehren. Seit Jahren geht ja im US-Kino der Trend zum zahmen PG-13-Horrorfilm mit Jungdarstellern aus TV-Serien. Damit soll das Teeniepublikum - die einzige Konstante, auf die man in Hollywood bauen kann - schnell abgezockt werden, mit billig gedrehten Möchtegern-Fürchtern wie "Boogeyman" oder dem demnächst kommenden Remake von "The Fog". Selbst die blutigeren Vertreter der Teenie-Slasher, das misslungene "Texas Chainsaw Massacre"-Remake etwa oder der immerhin spannende "Wrong Turn", können ihr Publikum kaum ängstigen. Zu oft weiß man durch lahme Stereotypen schon nach zehn Minuten, wer überleben wird und wer nicht; die mechanischen Effekte à la "Es huscht was durchs Bild und die Musik brandet auf" können auch nur noch ganz Unerfahrene erschrecken, und grundsätzlich gibt man sich zufrieden, wenn nach ein paar Schockeffekten dann auch gut ist und der oder die Überlebende(n) ins Happy End entlassen werden. Aber richtig schockieren, richtig aufwühlen, kurzum: richtigen Horror verströmen, das können diese Filme nicht.
Kein Wunder also, dass einer von außerhalb Hollywoods kommen muss, um dem zahmen Horror aus den Staaten mal wieder zu zeigen, wie es eigentlich gemacht wird. Neil Marshall hieß der gute Mann und konnte vor zwei Jahren mit seinem Debüt "Dog Soldiers" einiges an Lob einheimsen. Dennoch war sein Erstling allenfalls ein erster Schritt, auf den man aufbauen konnte. Das Duell Soldaten gegen Werwölfe konnte sich kaum für einen Ton entscheiden, schwankte unentschlossen zwischen schwarzer Komödie und ernstem Horror, hatte zudem nur sehr mäßige Spezialeffekte und hauchdünne Dialoge. All das ist im Nachfolger bedeutend besser geworden, denn in "The Descent" ist die Marschrichtung klar: ab ins Herz der Finsternis. Hier gibt's nix zu lachen, hier wird nicht selbstironisch posiert, der Humor zur Entspannung zwischendurch war leider gerade aus. Bitterböse geht's hier zu, blutig sowieso und Atempausen sind spätestens nach den ersten 25 Minuten, in denen die Geschichte ruhig aufgebaut wird, Mangelware.
Statt dem fast exklusiven Jungs-Abenteuer in "Dog Soldiers" sind hier die Mädels gefragt. Sechs Frauen machen eine Expedition in ein unerforschtes Höhlensystem - und finden dort mehr als ihnen lieb ist. Wer geglaubt hat, dass in den Appalachen ein paar unfreundliche Hinterwäldler das Schlimmste sind, auf was man treffen könnte, den belehrt "The Descent" eines Besseren. Tief unter der Erde lauert etwas Schlimmeres. Etwas viel Schlimmeres. Was genau das ist, soll natürlich nicht verraten werden, wie es überhaupt ratsam ist, über den Film nicht zuviel zu wissen. Deshalb nur soviel: Geprägt werden die Beziehungen innerhalb der Gruppe durch das angespannte Verhältnis zwischen drei Frauen. Dies sind Juno (Natalie Mendoza), die selbstsichere Anführerin der Gruppe, die von einem Unfall in der Vergangenheit traumatisierte Sarah (Shauna MacDonald) und ihre Freundin Beth (Alex Reid), die ahnt, welches Geheimnis beide Frauen verbindet und entzweit. Und als die Situation unter der Erde immer verzweifelter wird, kommen auch diese persönlichen Verbindungen ins Spiel, um den bevorstehenden Terror voranzutreiben….
Als geschicktesten Schachzug, um auch ein hartgesottenes Genrepublikum noch zu ängstigen, hat Marshall schlicht alle Urängste in den Film eingebaut, die man so haben kann. Da kann sich dann jeder was raussuchen. Wie bitte, Sie sind Klaustrophobiker? Brrr, das wird äußerst ungemütlich. Hat da wer Höhenangst? Oha, das kann hart werden. Wie jetzt, Furcht vor der Dunkelheit? Dann aber auf die Zähne beißen. Und wer hier noch nicht fündig wird, für den holt er dann den Joker raus: Angst vor der Dunkelheit mag ja das eine sein, aber Angst vor dem, was in der Dunkelheit lauert ist noch mal eine ganz andere Hausnummer, besonders wenn es Dir übel gesonnen ist. Und so kriegt man das Rundum-Paket: Fürchtet und schwitzt mit den Frauen, wie sie sich durch wenige Zentimeter breite Löcher quetschen, schaut ihnen vorsichtig über die Schulter, wenn sie mit ihren schwachen Lichtquellen die Dunkelheit zurücktreiben, und versteckt sich dann gedanklich mit ihnen, wenn es ernst wird. Nie hat ein Horrorfilm in den letzten Jahren eine so nachhaltige Atmosphäre ständiger Anspannung erzeugt. Während für den Einen (wie zum Beispiel den Rezensenten) die fürchterliche Enge und Klaustrophobie der ersten Hälfte wesentlich schlimmer ist als jedes Grauen aus der Dunkelheit, wird dem Anderen wahrscheinlich spätestens beim Blutbad (im Wortsinne) gegen Ende etwas unangenehm zumute.
Als hätte er sich der Werbezeile des Original-"Texas Chainsaw Massacre" ("Who will survive…and what will be left of them?") und vor allem dessen Atmosphäre erinnert, baut Marshall in den ersten 45 Minuten eine zunehmend hoffnungslose Grundstimmung auf, die dann in einem spektakulären zweiten Teil gipfelt, der zu gleichen Teilen aus Schockeffekten, wirklich schweißerzeugenden Spannungssequenzen und gutem alten Splatter besteht. Gerade letzteres sollte für Leute, die Blut auf der Leinwand nicht so abkönnen, erwähnt werden, denn neben der wohl garstigsten Operation an einer offenen Wunde ever, hat Neil Marshall das Kunstblut wohl in der "Lucio Fulci-Gedächtnis-Großpackung" bestellt. Da spritzt es nur so, und Körper und Körperteile werden auf äußerst unschöne Art und Weise umarrangiert.
Und so gewinnt Marshall im Grunde beide Fronten, weil er zwei Horrorfilme in einem liefert. Der psychologische Horror der ersten Hälfte mit seiner klaustrophobischen Stimmung zum Einen und der physische, handfeste und blutige Horror der zweiten Hälfte. Beides absolut stimmig und auch stimmig verbunden, so dass man keinen Bruch zwischen den beiden erkennen kann. Inszenatorisch ist das Ganze eher solide und klassisch als gewollt kreativ, was sich als vollkommen richtig erweist. Denn so verstellt keine abgedrehte Kamerafahrt oder clevere Spielerei den Blick auf das Grauen (gell, Herr Nispel!), es bleibt alles naturalistisch. Einzig in den Kampfszenen greift er zu rapiden MTV-Schnitten, die stören, weil man nicht viel erkennt. Andererseits: Vielleicht ist genau dies aber auch der Punkt. Schwupp, etwas schnappt Dich aus der Dunkelheit und dann geht alles ganz schnell. Das lassen wir mal als gewollten Effekt so durchgehen.
Klar, ein oder zwei der "Huch, es war nur eine Katze"-Schockmomente kann sich auch Marshall nicht verkneifen, aber das wird nicht inflationär bis zum Spannungstod genutzt. Und auch sonstige Grundpfeiler des Teenie-Horrorfilms - ominöse Vorandeutungen am Anfang, Erklärungsversuche am Ende - verbietet sich der Film, reduziert das Genre auf seine Essenz: Schock, Anspannung und Angst. Das Ganze kulminiert in einem denkwürdigen Finale, das mit Sicherheit Diskussionen nach dem Abspann auslösen wird, was genau passiert ist und warum. Und das ist auch richtig so, denn anstatt dem Publikum eine saubere, ausformulierte Lösung zu geben, lädt das Ende zum Selbstinterpretieren ein. Und bietet so auch noch Geistesnahrung.
Klar, Oscars für die Dialoge und die Figuren wird es keine geben, aber auch hier gereicht die Ökonomie zum Vorteil: Dialoge - nach "Dog Soldiers" zu urteilen ein Schwachpunkt Marshalls - wurden auf das notwendige Minimum reduziert und die Figuren sind gut genug definiert, um als Charaktere jenseits sattsam bekannter Stereotypen zu bestehen; nicht gut genug aber, als dass dies Hinweise gibt, wer in welcher Reihenfolge das Zeitliche segnet. Wichtige Plotdetails wie die Verbindung zwischen Juno und Sarah werden beiläufig eingeflochten, ohne das man Detektiv sein muss, um sie zu erkennen. Und die Darstellerleistungen des Damen-Sextetts gehen allesamt in Ordnung, mit besonders guter Leistung von Natalie Mendoza, die ihrem ambivalenten Charakter Tiefe verleiht. Selbst der Titel ist intelligenter als es auf den ersten Blick scheint: Natürlich geht es auch um einen Abstieg, direkt in die Hölle quasi, aber wer in einem englischen Wörterbuch nach weiteren Bedeutungen forscht, kann auch die Natur der Bedrohung des Films zumindest erahnen.
"The Descent - Abgrund des Grauens" macht das, wovon diverse Genrevertreter in den letzten Jahren nur träumen konnten, so überzeugend, dass man natürlich Gefahr läuft, die erbrachte Leistung als zu hoch zu bewerten. Dennoch, so wirkungsvoll war Horror über viele Jahre hinweg nicht. Und somit hat das Genrepublikum DEN Horrorfilm des Jahres vor sich, und alle anderen sollten vielleicht sowieso besser fern bleiben. Sonst müssen die Kinobesitzer demnächst von Fingernagelkrallen zerkratzte Kinosessel reihenweise austauschen. Sagen wir das mal so: Das Grauen hat nach langer Abwesenheit wieder einen guten Namen, und der lautet "The Descent".
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