Bernardo Bertolucci, der Altmeister des Autorenkinos, ist nach Paris zurückgekehrt. Da seine vorherigen Filme "Stealing Beauty" (1996) und "Besieged" (1998) von Publikum und Kritik nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen wurden, durfte man auf die filmische Heimkehr in die französische Metropole doppelt gespannt sein. Schließlich hatte er hier mit "Der Konformist" (1970) und "Der letzte Tango in Paris" (1972), welcher in seiner drastischen Darstellung des hypnotischen Erotizismus immer noch unerreicht ist, zwei seiner populärsten Filme realisiert.
"Die Träumer" basiert auf einem Roman von Gilbert Adair und spielt im Jahre 1968, als auch Frankreich (wesentlich heftiger als Deutschland) von Studentenunruhen erschüttert wurde, die das ganze Staatssystem zum Wanken brachten. Eine Zeit, die Bernardo Bertolucci prägte wie keine zweite; die er mit "Vor der Revolution" (1964) bereits vorwegnahm und die - nachdem sie endlich in die Welt trat - sein Leben und Werk für immer bestimmte.
Erzählt wird die Geschichte des jungen, schüchternen Amerikaners Matthew (Michael Pitt), der während einer Demonstration gegen die Schließung der Cinemathèque Francaise das Geschwisterpaar Theo (Louis Garrel) und Isabelle (Eva Green) kennen lernt. Wie Matthew sind die beiden Franzosen ausgesprochene Filmfreaks, die so nah wie möglich an der Leinwand sitzen, um sich an den verheißungsvollen Bildern zu berauschen. Ihre Verbundenheit zum Kino - und die des Regisseurs - offenbart sich bereits in einer frühen Szene, als Isabelle behauptet, 1959 auf den Champs-Elysées geboren worden zu sein. War doch dies das Jahr, in dem Jean-Luc Godard mit "Außer Atem" die revolutionäre "Nouvelle Vague" des französischen Kinos ins Leben rief und Jean-Paul Belmondo als Ganove auf den Champs-Elysées zunächst einem Plakat mit seinem Helden Humphrey Bogart gegenübersteht, um kurz darauf die Zeitungen verkaufende Jean Seberg kennen zu lernen. Da die Eltern von Isabelle und Theo für ein paar Woche ans Meer fahren, ziehen sich die Geschwister zusammen mit Matthew in deren Altbauwohnung im Quartier Latin zurück.
In entspannter Atmosphäre reden sie über Politik, Bücher und das geliebte Kino. Gegenseitig testen sie ihr Filmwissen, was Bertolucci die Gelegenheit bietet, mit respektvoller Eleganz übergangslos alte Filmausschnitte in die Erzählung zu schneiden: Wenn die Geschwister ihrem Gast mitteilen, sie würden ihn als Gleichgesinnten akzeptieren und dazu ein fließender Übergang zu Tod Brownings "Freaks" (1932) stattfindet, wenn das Trio durch den Louvre stürmt, um den Zeitrekord von Jean-Luc Godards "Außenseiterbande" (1964) zu unterbieten und ihre Idole auf der Leinwand das Rennen scheinbar simultan mitlaufen, oder gar Isabelle die Garbo imitiert und diese dann tatsächlich in "Königin Christine" (1933) erscheint, zeugen diese Rekreationen von einer unverhohlenen Liebe zum alten Hollywood und den französischen Meistern.
Aber bald schon entdeckt Matthew die intimen Geheimnisse seiner Gastgeber. Nicht nur, dass sich die Zwillinge während ihrer Nachtruhe nackt ein Bett teilen, auch ihre Hingabe zum Kino schlägt in ein gewagtes Spiel um. Wer beim "Film-Quiz" verliert, muss ein Pfand abgeben, seine Schuld in "Naturalien" begleichen. So befiehlt Isabelle Theo auf ein Bild von Marlene Dietrich zu onanieren, später müssen die Verlierer Isabelle und Matthew (für beide das erste Mal) unter Theos Augen miteinander schlafen.
Da Matthew sich im Laufe der Zeit in Isabelle verliebt, aber ebenso zwischen ihm und Theo eine erotische Spannung entsteht, fixieren sich die drei immer intensiver aufeinander und blenden die reale Welt außerhalb ihrer Wohnung nahezu vollkommen aus. Nachdem das Trio schon seit Tagen das Haus nicht mehr verlassen hat, die Verwahrlosung zunimmt und das Beziehungsgeflecht immer obsessiver wird, droht das einst verspielte Verhalten gefährlich zu enden.
Bertoluccis neuer Film ist eine Liebeserklärung ans Kino, die beinahe gänzlich auf politische Implikationen verzichtet. Das Paris des Jahres 1968, mit seinen Revolten und Straßenbarrikaden, wird in "Die Träumer" zugunsten einer emotionalen Entdeckungsreise der Protagonisten vernachlässigt. Der kleinste gemeinsame Nenner (und auch der größte, was in diesem Fall ausnahmsweise kein Widerspruch ist) manifestiert sich in der Cinephilie der jugendlichen Freunde.
Der Regisseur erzählt auf dieser Grundlage eine Geschichte über die doppelte Natur des Kinos, eines Mediums, in dem sich sowohl Wunsch wie auch Wirklichkeit treffen. Mit großer Hingabe dokumentiert Bertolucci den Einfluss des Kinos auf das Leben, wie es Isabelle, Theo und Matthew inspiriert, ihre innere Einstellung prägt und den Tag beseelt. Auch wenn das Kino dem Trio am Ende Sand in die Augen streut und die drei Jugendlichen in ihrer Fantasiewelt zu versinken drohen, lässt Bertolucci jedoch keinen Zweifel daran, dass er das Kino für das bessere Leben, für seine raison d` être, hält.
Laut gewordenen Stimmen, die dem Film ein Übermaß an freizügigen Szenen und sich nicht zur Identifikation eignende Hauptfiguren vorwerfen, darf entgegnet werden, dass die Darstellung der Sexualität in letzter Konsequenz den Regeln der Handlung bzw. dem Entwicklungsprozess der Figuren folgt, und zu keiner Zeit ins simpel Pornographische abrutscht. Wer dem Altmeister hier eine latente Altherren-Geilheit vorwirft, urteilt dementsprechend viel zu oberflächlich. Darüber hinaus befindet sich für Bertolucci, im Gegensatz zum populären amerikanischen Film, das Publikum nicht in der Rolle des Voyeurs. Seine Kamera soll eine beabsichtigte Distanz schaffen und die Zuschauer am Eintreten hindern. Ein bewusster Identifikationsprozess mit dem Bohème-Trio ist somit nicht vonnöten und sein Fehlen dem Film auch nicht anzulasten.
Und wenn am Ende, nachdem die Wirklichkeit die Protagonisten eingeholt hat, Edith Piaf "Je ne regrette rien" singt, ist dies nicht nur auf die Zuschauer übertragbar, die diesen Filmbesuch sicher nicht bereuen werden, sondern auch ein augenzwinkernder Kommentar des Regisseurs auf seine eigene Vergangenheit. Bertolucci ist hier zwar kein Opus Magnum der Klasse vom "Letzten Tango" gelungen, aber der erste Schritt zu einem würdigen Alterswerk.
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