Spotlight: DESIGN OF A DECADE - Filme der Neunziger

1995.... Das neue Design des Schreckens: "Sieben"

Nach dem Superfilmjahr schlechthin beruhigte sich die Branche wieder ein bißchen und lief in geregelten Bahnen. Es gab wieder erwartete Kassenknüller, überraschende Achtungserfolge und unerwartete Flops. Mit Mel Gibson zog erneut ein Superstar in die Elite der auch als Regisseur anerkannten Schauspieler ein: Er räumte mit "Braveheart" ganz groß ab. Michael Mann setzte Al Pacino und Robert de Niro mit zwei Tassen Kaffee an einen Tisch und schuf so den Prototyp des Großstadtkrimis der Neunziger, “Heat”. Und dann gab es da noch vier Filme, die stilistisch gehörig aus dem Rahmen fielen: Kathryn Bigelows verstörende, aber brillante Zukunftsvision "Strange Days" floppte zu Unrecht. Terry Gilliams Zeitreiseabenteuer "Twelve Monkeys" definierte den Begriff Komplexität neu. Bryan Singer stellte in "Die üblichen Verdächtigen" die wohl berühmteste Frage des Jahrzehnts. Und völlig unerwartet wurde ein Film über einen Serienkiller zu dem Insidertip des Jahres.
"Sieben" war anders. Das ist die grundlegende Aussage. Er war in jeder Hinsicht irgendwie neu. Filme über Serienkiller waren seit langem nur noch was für die Ramschkiste in der Videothek. Keinen interessierte das wirklich. David Fincher wußte das sicherlich auch. Vielleicht war gerade das seine Motivation. Die Leute für einen Film zu begeistern, den sie eigentlich gar nicht sehen wollten. Genaugenommen haben viele nachher gesagt, sie hätten sich ihn besser nicht angesehen. Aber nicht, weil er schlecht war. Weil er gewirkt hatte.
Fincher kreierte in "Sieben" eines der dunkelsten Gesellschaftsbilder unserer Zeit. Die Großstadt ist bei ihm ein Moloch: dreckig, stinkig, gefährlich, laut. Es regnet die ganze Zeit. Die Menschen sind vereinsamt, desillusioniert, kaputt und leer. Fincher hielt der Gesellschaft den Spiegel vor. Und sie mußte hineinsehen. Das tat weh. 
Aber das war erst der Anfang. Die Mordserie, die der Film behandelt, ist vieles: Grausam, ekelerregend, unmenschlich, zynisch, bar jeder Beschreibung brutal. Aber gleichzeitig auch wahnsinnig kreativ, einfallsreich, faszinierend. Der Zuschauer befand sich in einem perversen Dilemma. Wollte man nach dem ersten Mord am liebsten vor Ekel das Kino verlassen, so wollte man am Ende unbedingt das Werk vollendet sehen. Fincher tat uns den Gefallen. Und brach die nächste Konvention. Hier gibt es kein Happy End. Am Ende ist eine Person zuviel tot.
Neben der effektvollsten Story, die ein Thriller seit Ewigkeiten gesehen hat, bestach "Sieben" vor allem durch seinen modernen Stil. Enorme Schnittfrequenzen, wilde Einstellungen, atmosphärisch unübertreffliche Settings, und zum Schluß lief der Abspann in der falschen Richtung. Was David Fincher mit seinen früheren Arbeiten ("Alien 3" und diverse Musikvideos) bereits angekündigt hatte, kam hier voll zur Geltung: Er hatte einen eigenen, neuen, wilden und unfaßbar kreativen Stil. Mit "Sieben" legte einer der begnadetsten Regisseure der Neunziger seine Meisterprüfung ab. Und was das Thrillergenre betraf, so war danach nichts mehr wie zuvor. Ein neues Referenzwerk war da, und das mußte erstmal verdaut werden.
David Fincher ließ sich Zeit mit neuen Projekten. Sein nächster Film "The Game" kam erst zwei Jahre später, und wieder spielte der Regisseur nach Belieben mit seinen Zuschauern, führte sie in die Irre, bis sie nicht mehr wußten, wo oben und unten ist. Es scheint, als wollte Fincher sein Talent nicht für Projekte verheizen, die keine Herausforderung an den Regisseur darstellen. Wenn dem so ist, dann kann man sich nur auf weitere Geniestreiche freuen. Es müssen ja nicht alle so genial-beklemmend sein wie "Sieben".

Mörderisch genial: "Sieben" von David Fincher.
Wer hier im Kino nicht gelitten hat, den läßt wirklich alles kalt