Spotlight: DESIGN OF A DECADE - Filme der Neunziger

1998..... Das gigantische Ausmaß der Unerklärlichkeit: "Titanic"

Beinahe hätte sich dieses Jahr mit seinem Vorgänger um den Rekord für Primitivproduktionen streiten müssen. Die nächste Episode im Wettstreit zweier Filme mit derselben Prämisse trugen dieses Jahr der langatmige "Deep Impact" und der hirnlose "Armageddon" aus, Riggs und Murtaugh alberten sich durch die handlungsleere Fortsetzung zu "Lethal Weapon", und Roland Emmerich gelang das einmalige Kunststück, mit "Godzilla" seinen eigenen Rekord an Ideenlosigkeit noch zu übertreffen. Als der Sommer geschafft war, konnte der Kinogänger endlich wieder aufatmen, warteten mit Peter Weirs genialer Mediensatire "Die Truman-Show" und Spielbergs Weltkriegsdrama "Der Soldat James Ryan" doch endlich wieder cineastisch ansprechende Werke. Vor all dem, ganz am Anfang des Jahres, war aber schon etwas anderes passiert, daß die Filmwelt in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Schiff fuhr gegen einen Eisberg, und der ganze Planet sah zu.
James Cameron, diktatorischer Perfektionist im Regiestuhl, hatte den ultimativen Meilenstein hingelegt. Es gibt keinen Rekord, den dieser Film nicht brach: Die höchsten Produktionskosten (280 Millionen Dollar), die meisten Oscarnominierungen (14), die meisten Auszeichnungen (11), und natürlich das höchste Einspielergebnis (weltweit knapp zwei Milliarden Dollar). "Titanic" wurde nicht einfach zum erfolgreichsten Film aller Zeiten, er überbot "Jurassic Park" um mehr als die Hälfte dessen eigener Einnahmen, er war in jedem Land der Welt der erfolgreichste Film des Jahres, er sorgte mancherorts für nie dagewesene Spielzeiten, und der Starttermin vieler Produktionen wurde nach hinten verlegt, um nicht mit "Titanic" konkurrieren zu müssen. Kurz gesagt: So etwas hatte die Filmwelt noch nicht erlebt. Wie konnte das überhaupt geschehen?
Diese Frage hat inzwischen so ziemlich jeder gestellt, und wahrscheinlich kann sie auch Cameron selbst nicht vernünftig beantworten. Fakt ist, daß viele sogenannte Insider dem Regievirtuosen den lange erwarteten Absturz prophezeit hatten, als dieser mal wieder den Kostenrekord gründlich atomisierte und dann auch noch statt auf satte Action auf eine Liebesgeschichte setzte. Fakt ist, daß man mit Schnulzen zwar Erfolg haben kann, aber nicht in solchen Dimensionen. Fakt ist, daß selbst die produzierende Paramount der Sache nicht traute, und so den folgenschweren Fehler begang, die gesamten Auslandsrechte an "Titanic" für im nachhinein lächerliche 70 Millionen Dollar an Twentieth Century Fox zu verkaufen. Fakt ist aber auch, daß bei genauem Analysieren der Erfolg des Films auch in diesem Ausmaß durchaus vorhersagbar gewesen wäre. 
Folgende Publikumsmagneten wurden hier vereint: Erstens das Rekordbudget, was sowohl unverbesserliche Lästermäuler, die auf den Absturz warten, als auch Gigantismusfreaks in die Kinos führt. Zweitens der Regisseur, der mit seiner langen Reihe früherer Action-Meisterwerke eine riesige Fangemeinde gewinnen konnte, die ihm fast blind vertraut. Drittens der Hauptdarsteller Leonardo di Caprio, dessen Verpflichtung wahrscheinlich einer der genialsten Besetzungscoups in der Geschichte Hollywoods war. Erst vor kurzem durch "William Shakespeare's Romeo und Julia" zum Teeniestar aufgestiegen, war di Caprio einerseits noch unverbraucht und preiswert, andererseits aber auch schon so unheimlich beliebt, daß seine eher mittelmäßige Vorstellung für den Erfolg der Sache bereits egal war. Seine schiere Anwesenheit reichte aus, um den jungen Mädchen dieser Welt den ultimativen Tränenschocker zu geben, und den jungen Männern dieser Welt die Garantie, daß die Begleitung beim Date eine breite Schulter zum Ausweinen brauchen wird. 
Camerons Wagnis, seinen Film nicht auf Action, sondern auf Romantik aufzubauen, war letztlich der Grund für seinen unvergleichlichen Triumphzug: Den Kritikern gab er einen perfekt inszenierten Katastrophenfilm mit Tiefgang, dem Publikum eine epische Mammutproduktion für Herz und Auge. Die Leonardo-Fanclubs, die dank Mehrfachbesuchen die Kinos auch nach drei Monaten noch füllten, taten schließlich ihr übriges, um einen Einnahmerekord jenseits der optimistischsten Prognose zu verursachen.
Danach war alles anders: Den Schock, daß ein Werk mit einer völlig gegenläufigen Rezeptur als die bewährten "Blockbuster" auf einmal zum erfolgreichsten Film aller Zeiten wird, mußten einige erst einmal verdauen. Camerons Film hatte jedes Erfolgsrezept auf den Kopf gestellt. Selbst der Soundtrack verkaufte sich wie verrückt, obwohl es sich tatsächlich um den wirklichen Score handelte und nicht um eine mit großen Namen aufgeblasene Mogelpackung mit dem Hinweis "Music inspired by ...". Verfechter des Größer! Lauter! Teurer!-Prinzips mußten zugeben, daß man den absoluten Megaerfolg auch mit etwas mehr Feinfühligkeit erreichen kann. Und Leonardo di Caprio war lange Zeit nicht mehr auf der Leinwand zu sehen, da sein eigener Anspruch an künstlerisch wertvolle Arbeit mit seinem neuen Image als Megasuperstar kaum noch vereinbar war. “Titanic” hatte sich in ein Phänomen verwandelt, daß in diesem Ausmaß vielleicht nicht auf ewig, aber für lange, lange Zeit unvergleichlich bleiben dürfte.
Am Ende hatte das Publikum allen neunmalklugen Marktstrategen und Studiobossen mal wieder gezeigt, daß man die Rechnung nie ohne den Zuschauer machen sollte, und James Cameron war wirklich der König der Welt. Für das heiß erwartete "Star Wars"-Prequel war eine sehr hohe Meßlatte angelegt worden.

  Ein riesiger Pott!
Nein, nicht Kate Winslet, sondern die Titanic