Einem Film vorzuwerfen, dass er nicht realistisch
ist, ist ein Widerspruch in sich - denn Film ist immer Fiktion.
Auch die Kritik, dass er Vorurteile bedient und Ängste schürt,
greift nicht automatisch, denn ganze Genres leben davon. So suchen
Frauen in romantischen Komödien immer den Mann fürs Leben
(Vorurteil) und Psychothriller lassen Serienkiller zum Massenphänomen
werden (Angst).
"Helen" jedoch will ein Film sein, der die Realität
glaubhaft abbildet; er hat den Anspruch, trotz des schwierigen Themas
Depression auch eine
Liebesgeschichte und am Ende Hoffnung zu zeigen. Das geht so gründlich
schief, dass "Helen" nicht einfach ein sehr schlechter
Film, sondern ein handfestes Ärgernis geworden ist. Das Schlimmste
daran: die, die sich mit Depressionen nicht auskennen, könnten
den Film für realistisch halten, denn beklemmend ist er. Doch
die Darstellung der Krankheit und ihre Behandlung sind haarsträubend
falsch.
Der Inhalt: Die schöne Helen (Ashley Judd) führt ein
goldenes Leben. Die Musikprofessorin ist in zweiter Ehe mit dem
gut aussehenden und liebevollen David (Goran Visnjic, bekannt aus
der TV-Serie "Emergency Room") verheiratet, gemeinsam
leben sie mit Helens 13-Jähriger Tochter Julie in einem architektonischen
Juwel. Doch Helen wird zunehmend schwermütig, unkonzentriert
und müde. Bei einem Treffen mit Freunden verschwindet sie plötzlich;
als ihr Mann von einer Reise zurückkommt, findet er sie reglos
im Badezimmer wieder. Im Krankenhaus stellt sich heraus, dass Helen
depressiv ist, und - zum Schock von David - früher, vor ihrer
Ehe, schon einmal versucht hat sich umzubringen. In diese Verzweiflung
gerät sie schnell wieder. Wochen später kann David sie
nach einer Überdosis Tabletten gerade noch vor dem Tod retten.
In der Klinik wendet sich Helen Mathilda (Lauren Lee Smith, "CSI")
zu, eine Schülerin von ihr, die ebenfalls psychisch krank ist.
Von ihr fühlt sich Helen endlich verstanden. Sie wendet sich
mehr und mehr von ihrer Familie ab und zieht schließlich bei
Mathilda ein. Beiden Frauen scheint es damit besser zu gehen
.
Weshalb
das solide Spiel von Ashley Judd und Goran Visnjic für die
Filmwertung trotzdem nicht mehr als zwei Augen bringt, liegt an
der abstrusen Handlung, welche durch entsprechende Wendungen, Bilder
und Dialoge unterfüttert wird. Und dass ab und an auch mal
ein zutreffender Satz fällt ("Ich sehe, das alles um mich
herum da ist; aber ich gehöre nicht mehr dazu") oder einige
Szenen glaubwürdig sind (wie Davids innere Aufruhr), kann den
Film insgesamt nicht retten.
Denn Helens und Davids Verzweiflung sind nur der Stein, der ins
Wasser geworfen wird. Die Wellen, die daraus entstehen, machen das
Ärgernis aus. Helen muss mehrfach ins Krankenhaus und wer ohnehin
Angst vor der Psychiatrie hat, bekommt hier zweifellos noch größere.
Die Flure sind dunkel, flach und eng. In den Räumen ist die
Atmosphäre einsam und beklemmend. Mit der Realität hat
das wenig zu tun. Es gibt zwar noch Psychiatrien in Gebäuden
aus den 60ern und 70ern, die per se nicht schön sind; egal,
ob darin Beinbrüche oder Depressionen behandelt werden. Doch
moderne Psychiatrien werden extra hell und freundlich gebaut. Die
Menschen-unwürdigen psychiatrischen Anstalten der 50er bis
70er Jahre sind heute Gott sei Dank abgeschlossene Vergangenheit.
Zu
Helen ist das Klinik-Personal kühl, oder, wenn freundlich,
sehr von oben herab. Helen wird viel allein gelassen, bevormundet
oder ihr wird etwas aufgedrängt, was sie auf keinen Fall will.
Verständnis und Anteilnahme bekommt sie nicht. Und dass ist
der größte, verantwortungslose Fehler des Films: Helen
bekommt nie Psychotherapie angeboten. Weder ambulant noch stationär.
Dabei ist das heute weltweit Standard, in der Provinz genauso wie
in der Großstadt, in Deutschland genauso wie in den USA. Nur
bei sehr schweren Depressionen werden parallel Medikamente gegeben.
Die Kombination aus beidem hilft rund 80 Prozent aller Patienten,
das ist in etlichen wissenschaftlichen Studien und Meta-Analysen
nachgewiesen.
Doch Helen erfährt das Grusel-Kabinett, welches fast jeder
fürchtet: Sie soll zwangseingewiesen werden, bekommt ausschließlich
Medikamente, die nicht genügend helfen, und sie entscheidet
sich schließlich für die an sie herangetragene Elektrokrampftherapie.
In der Realität ist das eine kurze, ambulante Behandlung, die
keineswegs einer Lobotomie ähnelt, als die sie im Film dargestellt
wird. Es gibt in der Tat Patienten, die eine EKT bekommen, weil
nichts anderes hilft, aber da Helen, wie gesagt, nicht mal psychotherapeutisch
behandelt wird, ist das mit Kanonen auf Spatzen schießen.
Ebenso
absurd werden die Beziehungen im Film gezeigt. Dass Helen, David
und die kleine Tochter unter der Krankheit leiden, dass es sie voneinander
entfremdet, ist klar und wahr. Doch dass Helen nur die Freundschaft
mit Mathilda als einziges hilft, dass nur Patienten einander verstehen
können, wird mit einer Absolutheit dargestellt, die in der
Realität keinesfalls zutrifft. Es ist maximal innerhalb des
Films schlüssig, da es hier keine des Verstehens fähige
Ärzte, Psychotherapeuten oder Sozialarbeiter gibt. David bekommt
den Satz zu hören: "Denkst du, es geht hier um Liebe?
Es gibt nichts, was du tun kannst." Dabei gibt es eine Menge,
die er und alle Partner tun könnten. Eine Depression muss nicht
in der sprachlosen Ohnmacht des Films, mit einem tiefen Graben zwischen
Kranken und Gesunden enden. Ohne zu verraten, was am Ende geschieht,
sei doch gesagt, dass das, was mit Mathilda passiert und wie es
dann mit Helens Familie weitergeht, der hanebüchene Versuch
ist, ausgerechnet dort eine Hoffnung zu platzieren, wo sie am unglaubwürdigsten
ist.
Tragisch für den Film ist noch dreierlei. Erstens, dass die
Regisseurin Sandra Nettelbeck ("Bella Martha") diesen
Film Helen gedreht hat, weil sich eine Freundin von ihr 1995 das
Leben nahm. Wenn Nettelbecks private Erlebnisse - aus von außen
nicht nachzuvollziehenden Gründen - denen im Film auch nur
ansatzweise ähneln, sind sie und ihre Freundin aufrichtig zu
bedauern. Zweitens stimmt der Tenor, dass viele Depressive nicht
richtig behandelt werden. Doch das liegt überwiegend an der
ambulanten Behandlung, zum Beispiel erkennen Hausärzte oft
eine Depression nicht. Es ist aber kein Problem der Klinken. Drittens
zeigt der kürzliche Suizid von Nationaltorwart Robert Enke,
dass die schwere Krankheit Depression gar nicht genug in die Öffentlichkeit
gebracht werden kann. Wer sich dafür interessiert und, statt
des Films, korrekte und weiterhelfende Informationen sucht, dem
sei die Ausgabe Nummer 47 des Magazins "Der Spiegel" mit
seinem herausragenden Artikel zu den Hintergründen des Todes
von Robert Enke empfohlen. Und sicher nicht dieser Film.
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