Was macht man, nachdem man den teuersten, größten und
erfolgreichsten Film aller Zeiten gemacht hat? Erst einmal nichts.
Es war wohl nur zu verständlich, dass James Cameron nach dem
einmaligen Mammutereignis "Titanic"
erst einmal von der Bildfläche verschwand und sich viel Zeit
mit der Antwort auf die Frage nahm, was danach eigentlich noch kommen
kann. Abgesehen von einigen Fingerübungen für TV-Projekte
und ein paar Tiefsee-Dokus, bei denen er mit dem IMAX-Format und
der neuen 3D-Technologie experimentierte, blieb Camerons Filmografie
tatsächlich für geschlagene zwölf Jahre leer.
Die letzten vier davon verbrachte er allerdings mit diesem Projekt,
das sich nun, nach seiner Fertigstellung, als die wohl imposanteste
Antwort erweist, die Cameron auf die Frage geben konnte, was man
nach "Titanic" macht: Man wartet geduldig auf die Ausreifung
der nächsten tricktechnischen Kino-Revolution, eignet sie sich
an und setzt einen Meilenstein,
an dem so schnell niemand mehr vorbeikommen wird. Kurz gesagt: "Avatar"
ist der "T2" für 3D. So wie Cameron einst mit dem
zweiten "Terminator" auf bahnbrechende Weise die Möglichkeiten
der Computeranimation aufzeigte und einen neuen Standard für
das Blockbuster-Kino setzte, liefert er nun mit "Avatar"
das erste echte und zugleich endgültige Argument dafür
ab, dass die Zukunft des Kinos 3D heißt. Oh welch schöne
neue Welt steht uns bevor!
Der Elitesoldat Jake Sully (Sam Worthington) erwacht nach fast
sechs Jahren Raumtransport-Tiefschlaf am Ort seiner nächsten
Mission: Dem entlegenen Mond Pandora, unter dessen Dschungel-artiger
Fauna und Flora sich reichhaltige Vorkommen eines extrem wertvollen
Erzes verbergen. Dem ungestörten Abbau dieser Ressource stehen
allerdings die Ureinwohner Pandoras im Weg - die Na'vi, blauhäutige,
sehr agile Humanoiden, etwa doppelt so groß wie ein Mensch.
Um friedlich mit ihnen in Verbindung treten zu können, hat
die Wissenschaftlerin Dr. Grace Augustine (Sigourney Weaver) das
"Avatar-Programm" ins Leben gerufen: Aus der Vermischung
von Na'vi-DNS mit dem Erbgut eines Menschen werden Wirtskörper
in Gestalt eines Na'vi herangezüchtet, die von dem passenden
Menschen per Gedankenkraft kontrolliert werden können. Eigentlich
sollte sich Jakes Zwillingsbruder mit so einem "Avatar"
unter die Na'vi mischen, doch nach seinem Unfalltod wird nun Jake
für diesen Job angeheuert, da nur er dank seiner übereinstimmenden
DNS den Avatar seines Bruders kontrollieren kann.
Während Dr. Augustine auf eine friedliche Einigung mit den
Na'vi hofft, ist der örtliche Sicherheitschef des Erzabbau-freudigen
Konzerns, Colonel Quaritch (Stephen Lang), weniger zimperlich:
Wenn die primitiven Blauhäute nicht bald spuren, werden sie
eben niedergemäht. Der militärischen "Nicht lang
labern, sondern platt machen"-Mentalität des Colonels
ist Jake zunächst eher zugeneigt und gern bereit, ihm wertvolle
Informationen über die Na'vi zuzuspielen. Doch als Jake in
Gestalt seines Avatars durch die Stammesprinzessin Neytiri (Zoe
Saldana) immer mehr in Lebensweise und Bräuche des Naturvolks
eingeführt wird, bekommt er zusehends Zweifel, ob er auf der
richtigen Seite kämpft.
Laut Camerons eigener Aussage hatte er die Idee zu "Avatar"
schon vor 15 Jahren, und das mag man gern glauben, wenn man sich
an das vergessene SciFi-Juwel "Strange
Days" von 1995 erinnert, der damals nach einem Drehbuch
Camerons von seiner Exfrau Kathryn Bigelow inszeniert wurde. Schon
damals befasste sich Cameron mit der Idee, durch Technologie in
einen anderen Körper schlüpfen zu können - in "Strange
Days" noch 90er Jahre-kompatibel über aufgezeichnete und
wieder abspielbare Erinnerungen. Und schon in diesem Film fand sich
eine (Neben-)Figur, die im Rollstuhl sitzt und durch die neuartige
Technologie die Möglichkeit bekommt, erneut die Freude des
Laufens zu erfahren. Dasselbe gilt in "Avatar" für
den Helden Jake, nach einer Kriegsverletzung querschnittsgelähmt
und deswegen kaum noch zu kontrollieren, als er erstmals seinen
Avatar übernimmt und sofort lossprinten will, vollkommen euphorisch,
wieder seine Beine zu spüren.
Überhaupt fügt sich "Avatar" nahtlos ins Gesamtwerk
seines Regisseurs ein: Das bestimmende Grundthema von Camerons "Terminator"-Filmen,
der Kampf "Technologie vs. Menschlichkeit" wird hier auf
seine Essenz destilliert zum Kampf "Technologie vs. Natur".
Seine Tradition starker Frauenfiguren (Sarah Conner lässt grüßen)
erfährt ihre Fortsetzung in Neytiri, und man darf sich berechtigterweise
an Lt. Vasquez aus "Aliens"
erinnert fühlen, wenn hier Hubschrauberpilotin Trudy auftritt
(die konsequenterweise von Hollywoods Type-Cast für "toughe
Latina" der 2000er Jahre gespielt wird, Michelle Rodriguez).
Da ist es auch eine Freude für sich, wenn man ins Gesicht von
Dr. Augustines Avatar blickt - und wieder die Züge der jungen
Sigourney Weaver alias Ellen Ripley vor sich hat.
Woran Cameron sich auch schon immer gehalten hat, sind simple Story-Strukturen
und Figurenkonstellationen: Hier die Guten, da die Bösen. Klare
Gegensätze, archaische Konflikte - das ist Camerons Territorium,
und kaum jemand nutzt es so effektiv wie er, um eine packende Geschichte
zu erzählen. So sehr "Avatar" vor allem eine atemberaubende
Sinneserfahrung ist, die Effekte stehen hier immer im Dienst der
Geschichte und der Erzeugung
einer Welt und sind nie bloßer Selbstzweck. Aber was für
eine Welt das ist!
Cameron hält die Dinge einfach und nimmt dem Zauber von "Avatar"
nicht seine Magie, indem er langatmig und umständlich mit pseudo-wissenschaftlichen
Erklärungen hantiert. Wie die Technologie des Avatar-Programms
genau funktioniert? Jake Sully versucht es in einem seiner Videotagebücher
selbst zu erklären - und gibt zu, dass er es nicht versteht.
Ist letztlich auch egal. Ähnliches gilt für den unglaublichsten
Handlungsort des Films: Ein Kollege von Jake freut sich, als sie
zu den "fliegenden Bergen" aufbrechen. Den was? "Hast
du noch nie von den fliegenden Bergen von Pandora gehört?!"
Und das war's an Erläuterung. Sie fliegen halt. Und das ist
auch gut so. Denn wenn sie es nicht tun würden, könnte
man nicht diese Bilder sehen. Einfach nur: Wow
.
Es ist eine Welt der Wunder, die hier vor den ungläubig staunenden
Augen des Publikums über 160 unvergessliche und leider viel
zu schnell vergehende Minuten entsteht. Man ist in zahllosen Moment
einfach nur sprachlos, atemlos, fassungslos, was sich da vor den
eigenen Augen abspielt. Pandora selbst ist mit seiner Tier- und
Pflanzenwelt eine Pracht, die kaum in Worte zu fassen ist, ein derartiger
Rausch faszinierender Formen und Farben, dass man von seiner Schönheit
schier erschlagen ist. Doch schon lange bevor Jake den ersten blauen
Fuß in den Dschungel von Pandora setzt, ist man von den unglaublichen,
spektakulären Bildern dieses Films vollkommen gebannt. Ab der
ersten Minute entfaltet Cameron mit der neuartigsten 3D-Technologie
eine Welt von solcher Tiefe, Textur und gefühlter "Echtheit",
dass sich ein im Kino selten (wenn nicht sogar: noch nie) erlebtes
Gefühl absoluten Eintauchens in eine neue
Welt entfaltet. Egal, wie viele Filme der neuen 3D-Generation man
schon gesehen hat - sie alle waren nicht mehr als eine bescheidene
Vorschau, ein Appetizer für das, was einen hier erwartet.
Das wäre indes nur die halbe Miete, wenn sich "Avatar"
nicht auch in Hinsicht auf eine andere Tricktechnik als Meilenstein
erweisen würde: Denn der Film spielt mehr als zur Hälfte
in der Welt der Na'vi, und diese stammen allesamt aus dem Computer.
"Performance Capture" ist hier das Stichwort: Die Körper-
und Gesichtsbewegungen eines Schauspielers werden mit Sensoren erfasst
und auf eine animierte Figur übertragen. Doch während
der Pionier dieser Technik, Robert Zemeckis, sich seit Jahren erfolglos
müht, damit einen wirklich überzeugenden Film hinzubekommen
und stets an der noch immer fühlbaren Künstlichkeit seiner
Figuren scheitert (siehe "Der
Polar-Express", "Die Legende
von Beowulf" und zuletzt "Disney's
Eine Weihnachtsgeschichte"), perfektioniert Cameron im
Handstreich das Potential dieser Technik und erschafft mit seinem
Trickteam die am glaubhaftesten "schauspielernden" animierten
Figuren der Filmgeschichte. Die Übertragung der Körpersprache
der menschlichen Darsteller bis in feinste Details der Mimik ist
schlichtweg ohne Beispiel.
Tricktechnisch
liefert Cameron also erneut einen Meilenstein ab, an dem sich die
Konkurrenz auf Jahre wird messen müssen. Und auch erzählerisch
macht er hier alles richtig. Denn der größte Stolperstein
für "Avatar" war sicher seine Geschichte, die mit
ihrer simplen Metaphorik (Profitgeile Menschen zerstören die
Natur eines Planeten aus Gier nach einer wertvollen Energie-Ressource
- hat da jemand Erdöl und Klimakatastrophe gesagt?) und der
offensichtlichen Naturschutz-Botschaft der Gefahr ausgesetzt war,
in platte und übermoralische Öko-Romantik zu verfallen.
Doch Cameron umschifft diese Klippe geschickt, indem er sein Film-Paradies
nicht verkitscht - der Dschungel Pandoras ist voll von gefährlichen
und wenig possierlichen Raubtieren, und die Na'vi sind kein weises
Naturvolk mit klugen Indianersprüchen, sondern mit ihren urzeitlichen
Riten eine fast noch animalische Jäger-Zivilisation. Predigten
über die Heiligkeit der Natur oder ähnliches "Tree
Hugger"-Gerede gibt's hier nicht. Cameron lässt seine
Welt für sich selbst sprechen. Wer Pandora gesehen und erlebt
hat, der muss nicht mehr wortreich bekehrt werden.
Darum
kann man pünktlich zum Fazit auch die letzte Zurückhaltung
fahren lassen und konstatieren: Seit der "Matrix"
hat es keinen Film mehr gegeben, der die Wirkungskraft des Effekte-Kinos
derart neu definiert hat. "Avatar" ist ein Film, der eine
Tür in eine neue Dimension aufstößt, der zeigt,
was im Kino noch möglich ist. Ein Film, der seine Zuschauer
bei der Hand nimmt und fröhlich durch seine Welt tobt, springt
und purzelt wie ein glückliches Kind, das ein neues Spielzeug
bekommen hat. So ungefähr muss es sich für James Cameron
angefühlt haben, als er diese Technik für sich entdeckte
(von wegen: Was kann nach "Titanic" noch kommen?).
Die unverbesserlichen Download-Junkies, die sich diesen Film in
ein paar Tagen oder Wochen aus dem Netz ziehen, auf dem heimischen
Computer gucken und glauben, sie hätten ihn tatsächlich
gesehen, kann man nur auslachen. Selbst wenn man in ein paar Monaten
die Blu-ray-Disc kauft und damit ein ausgefeiltes Heimkino-System
füttert, kann das nur ein müder Schatten von dem Erlebnis
sein, das "Avatar" auf der großen Leinwand und in
3D bietet. Diesen Film kann man sich schlichtweg nicht zuhause ansehen.
In der 2D-Version ist er sicherlich ein grandioser, großartiger,
denkwürdiger Actionfilm. Aber wenn man "Avatar" nicht
in 3D gesehen hat, dann hat man ihn eigentlich nicht wirklich gesehen.
"Avatar" ist kein Argument, um wieder ins Kino zu gehen.
Er ist die Antwort auf die Frage, ob es noch etwas gibt, wofür
man ins Kino gehen muss.
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