Dieser Film macht es einem wirklich nicht leicht über
ihn zu reden oder zu schreiben, denn nach Reden oder Schreiben ist
einem gar nicht zu mute, wenn man Lars von Triers "Antichrist"
gesehen hat. Denn die meisten verlassen das Kino leicht fröstelnd.
Der Film macht es einem auch nicht leicht einen klaren Gedanken
zu fassen, denn mittlerweile haben - seit der Welturaufführung
bei den Filmfestspielen von Cannes - so viele Menschen etwas über
ihn gesagt, von führenden Filmkritikern wie Roger Ebert (bewundernd)
oder David Bordwell
(eher belächelnd) bis hin zu führenden Intellektuellen
wie Elfriede Jelinek (sehr klug) oder Daniel Kehlmann (eher weniger
klug). So hat sich ein breites Meinungsspektrum gebildet. Man hört
viel von der Brutalität einiger Bilder, von der verstörenden
Geschichte, die der Regisseur erzählt. Aber an was soll man
sich halten? Wie soll man am besten beginnen? Am besten mit dem
Anfang.
Und am Anfang hat von Trier einen Prolog gesetzt, der in betörenden
Schwarz-Weiß-Bildern zeigt, wie ein kleines Kind seinem Teddybären
folgend aus dem Fenster in den Tod stürzt. Gleichzeitig haben
seine Eltern - gespielt von Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe
- in der Dusche leidenschaftlichen Sex. Das ganze unterlegt von
Trier mit Händels Arie "Lascia ch'io pianga", in
der es bereits voraussagend heißt: Der Freiheit Wonne schwand
meinem Leben / könnt' ich mit Tränen den Tod ersehnen,
/ er bringt Erlösung von aller Pein. Und die Parallelmontage,
die den tödlichen Aufprall des Kindes mit dem Orgasmus der
Frau zusammenführt, bindet das Ehepaar an eine uneinlösbare
Schuld und legt damit die Weichen für den weiteren Konflikt.
Nach dem Tod des Kindes verfällt die Ehefrau (die wie ihr Mann
ohne Namen bleibt) in eine schwere Depression. Da der Mann selber
als Psychotherapeut tätig ist, beschließt er seine Frau
zu behandeln und führt sie, zwecks Therapie und Trauerbewältigung,
in eine einsame Hütte, die mitten in einem düsteren Wald
steht. Damit begeht er ganz bewusst einen Verstoß gegen den
Ethos der Psychotherapeuten, die nie Mitglieder ihrer eigenen Familie
behandeln sollen. Schon bald entgleitet ihm seine Therapie und die
dämonische Seite seiner Frau beginnt die Situation zu dominieren.
Lars
von Trier hat diesen Film gedreht um sich von einer schweren Depression
zu befreien, die den erfolgreichen Regisseur befallen hat. "Antichrist"
ist also auch eine Art Selbsttherapie. Daher kann man den Film -
was einige seiner Befürworter auch tun - als Aufarbeitung einer
Depressionserfahrung lesen. Das Problem einer solchen Interpretation
liegt auf der Hand. Sie rückt Lars von Trier als Person in
den Vordergrund. Diese biographische Lesart schwingt allzu leicht
weg vom eigentlichen Werk und schließlich sollte allein der
Film hier im Fokus der Betrachtung stehen. Erst wenn man sich also
etwas von der Depression des Regisseurs loslöst, bekommt man
einen anderen Blick auf den "Antichristen".
Von Trier bedient das Genre des Horrorfilms mit einer ihm eigenen
Klasse. Besonders die atmosphärischen Wald-Aufnahmen seines
Kameramannes Antony Dod Mantle sind beeindruckend. In diesen Momenten
entsteht der Horror rein aus der Umgebung und der Vermutung. Der
Rest ist Versatzstück. Der anfangs noch dominierende Ehemann
verliert so langsam die Kontrolle über seine Ehefrau, die durch
die wilde Natur eine dämonische Seite bekommt. Das Kräfteverhältnis
kehrt sich um, und schon haben wir die typischen Motive eines Lars
von Trier Films wie auf dem Präsentierteller vor uns: Der Hass
auf die eigene Mutter ("Dancer in
the Dark"), der durch das weibliche Geschlecht verletzte
Mann ("Spuren des Verbrechens"), die verstoßene
und von übersinnlichen Eingebungen geführte Frau ("Dogville"
/ "Breaking the waves"). Das alles paart sich in "Antichrist"
mit einer wilden Symbol-Mischung aus der Bibel, dem Schamanismus,
Teufelskult, schwarzer Magie, Naturkult, Astrologie und natürlich
auch der Hexenkunst. Denn über die letztere hat, wie sich später
im Film herausstellen soll, die Ehefrau in dieser Hütte geforscht
und sich mit den Schicksalen der ehemals verfolgten Frauen identifiziert.
Es
ist zwecklos zu fragen, ob die Ehefrau zur Hexe mutiert oder vom
Teufel besessen ist, wenn sie die Genitalien ihres Mannes und ihre
eigenen verstümmelt. Denn das Chaos regiert hier die Welt,
wie ein teuflischer Fuchs plötzlich mit menschlicher Stimme
in die Kamera zischt. Und so katapultiert sich der Film in völlig
verrückte metaphysische Sphären, denen man eigentlich
nur noch folgt, weil die beiden Hauptdarsteller sich die sprichwörtliche
Seele aus dem Leib spielen. Insbesondere Charlotte Gainsbourg präsentiert
hier die fraglos mutigste, eindrucksvollste und verstörendste
darstellerische Leistung des Jahres. Sie verleiht dieser Frau eine
abartige Körperlichkeit, die einen nicht so schnell loslässt.
Dabei ist diese Performance in jeder Minute eine Gratwanderung,
zwischen hemmungsloser Peinlichkeit und überwältigender
Verkörperung.
Ihre herausragende Leistung rettet den Film auch davor als frauenfeindlich
angesehen zu werden. Die Dominanz, die sich ihre Figur im Laufe
des Films erwirkt, und wie von Trier dies - sowohl beim Sex als
auch bei den gewalttätigen Ausschreitungen der beiden - inszeniert,
verbietet sogar diese Sichtweise des Films. Selbst die von der Presse
im Vorhinein als schockierend und abstoßend beschriebenen
Szenen, die den Film den Stempel des Skandalwerks auferlegten, erweisen
sich bei der Sichtung als marginal. Sie sind fast beiläufig
in dieser Geschichte, die endet, wie sie begann, und zwar mit einem
Epilog in Schwarz-Weiß. Doch nicht das was man sieht ist bei
von Trier abstoßend. Auf einer rein formalen Ebene muss man
dem Regisseur eigentlich ein Lob aussprechen; nein, vielmehr geht
es hier nicht um die Frage wie hier etwas erzählt wird, sondern
was hier gesagt wird.
Die
Welt ist Satans Werk und die Natur sein Tempel, sagt der Film. Eine
solche Einstellung zur Welt impliziert regelrecht die Vorstellung,
dass alles dem vernichtenden Untergang geweiht ist. Doch nicht die
düstere, pessimistische Weltsicht ist das Problem, sondern
die Idee, dass man am besten erst gar nicht geboren werden sollte.
Das illustriert von Trier in seinem Film durch ein Reh, das eine
Totgeburt mit sich trägt. Das sind nicht die Gedanken eines
Depressiven, sondern die Vision eines Autorenfilmers, der nicht
den Dialog mit den Zuschauern sucht, sondern ein einsames Selbstgespräch
führt. Doch wer erlöst uns aus dem Grauen dieser Welt?
Von Triers vollkommen inakzeptable Antwort lautet: der Tod. Doch
gerade das Werk, mit dem er am Ende seinen eigenen Film vergleicht
- Andrei Tarkowskis "Der Spiegel" - hätte ihn eines
besseren belehren müssen. Tarkowski nimmt den Zuschauer an
die Hand und führt ihn mit einer erstaunlichen Weisheit durch
das Leiden seines Lebens. Und genau hier erkennt man, dass nicht
der Tod uns erlösen kann, sondern allein der Mensch.
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