Ghost World

Originaltitel
Ghost World
Land
Jahr
2001
Laufzeit
111 min
Genre
Release Date
Bewertung
10
10/10
von Simon Staake / 4. August 2010

 

"Ghost World" ist ein Schatz, ein Film dessen Reichtum überwältigt, jedoch niemals auf irgendwie anmaßende Weise. Nichts ist groß, laut oder dumm an diesem Film. Damit hat er nicht nur dem Großteil des Hollywoodoutputs etwas voraus, nein, er setzt sich in der Gedankenwelt und auch ein wenig im Herzen des Zuschauers fest, eine Eigenschaft, die zuwenig Filmen vergönnt ist, weil diese zuwenig riskieren. "Ghost World" riskiert alles und gewinnt alles - dieser

Zwei gegen den Rest der Welt: Rebecca
(Scarlet Johansson) und Enid (Thora Birch)
Film geht nie auf Nummer sicher und geht dabei nie in die falsche Richtung. "Ghost World" hat soviele große und kleine Weisheiten aufzubieten, das man sich mühen muss, ihrer aller habhaft zu werden.
Dabei ist die hier präsentierte Geisterwelt bei weitem kein schöner Ort, sondern ein grausamer, kalter und vor allem grässlich mittelmäßiger Platz. Und dieser Platz hat keinen Platz für jemanden wie Enid (Thora Birch). Dieses Mädchen ist zu schlau, zu schlagfertig und schlichtweg zu groß für eine Welt wie diese, sie kann nicht eingefangen und gebändigt werden von den Ansprüchen und Zwängen einer Welt, in der der Mittelmäßige König ist und der Außergewöhnliche der Ausgestoßene. Enid ist ausgestoßen. Rein optisch ist sie der Typ, wie ihn jede Schule kennt: Gefärbte Haare, Hornbrille, schrille Klamotten. Außenseiter eben. Aber Enid schlägt zurück. Sie hat eine Zunge, die verletzender ist als jede Knarre, jedes Messer. Dies ist ihre Art und Weise mit einer Welt umzugehen, die sich weigert außergewöhnlich zu sein, mehr zu sein. An Enids Seite ist Rebecca (Scarlet Johannson), die gelangweilte Prinzessin, ein Mädchen unter dessen hübschem Äußeren nur Verachtung lauert für die Banalität und Falschheit ihrer Umwelt.

Auch so ein Paar wie Rebecca und Enid kennt man aus der Schule, die Außenseiterinnen die sich gegenseitig Halt geben, verschworen gegen die Unwissenden da draußen. Enid und Rebecca versuchen sich in dieser Welt zurechtzufinden, und das zu tun, was man eben so macht nach dem Schulabschluss: Einen Job und ein gemeinsames Appartement finden. Vorher muss Enid jedoch ihren Sommerkurs in moderner Kunst beenden, ein Unterfangen, das von ihrer Lehrerin (Illeana Douglas) fast vereitelt wird. Diese Roberta Allsworth ist eines der vielen Geister in dieser Welt, falsch und prätentiös, von der Gesellschaft gedrillt, zwischen "guter" und "schlechter" Kunst zu unterscheiden, dabei jedoch unfähig Brillanz zu erkennen, selbst wenn diese sie in den Hintern beisst.
Es gibt andere Geister: Josh (Brad Renfro), der Junge aus dem Laden um die Ecke, Enids und Rebeccas Lieblingsopfer, jedoch zu sehr Würmchen um für das dynamische und erbarmungslose Duo wirkliche Herausforderung

Ein wirklich seltsames Paar: Enid und ihr
neuer Kumpel Seymour, der Schellack-Freak.
zu sein. Also suchen sie ein neues Opfer, das in der Zeitung eine pathetische "Haben uns letzte Woche für drei Sekunden in die Augen geschaut. Täusche ich mich oder war da was? Bitte melde Dich!"-Anzeige geschaltet hat, geben sich als gesuchte Dame aus und fingieren eine Verabredung. Auftritt: Seymour (Steve Buscemi), trauriger Fall Mitte dreißig, Typ Verlierer im Leben und der Liebe. Die Mädchen spielen ihren Streich mit ihm. Doch unter dem müden, einsamen Äußeren Seymours verbirgt sich etwas, das Enid anspricht, wenngleich sie noch etwas länger braucht, um zu begreifen was es ist: Seymour ist wie sie, ein Außenseiter, der sich enttäuscht von der Welt zurückgezogen hat. Seymours Rückzug besteht hauptsächlich aus dem Sammeln alter 78er Schellack-Schallplatten von fast vergessenen Jazz & Blues-Sängern. Das Girlie und der Kauz nähern sich langsam an, Enid versucht sogar, dem linkischen Seymour Dates zu verschaffen, was schließlich mit der Zusammenführung von Seymour und der simplen, oberflächlichen Dana (Stacey Travis) endet. Und ab dort beginnen die Dinge endgültig auseinander zufallen. Rebecca ist eifersüchtig, dass Enid soviel Zeit mit dem "Typen aus Loserville" verbringt, Dana will nicht, dass sich Enid und Seymour weiterhin sehen. Und mittendrin stehen zwei Außenseiter, verwandte Seelen, die nun weniger denn je wissen, wie sie ihre Leben in den Griff kriegen sollen.

Dies ist eine der großen wahren Lehren, die "Ghost World" liefert: Egal, wie nahe sich Personen stehen, sie werden sich zwangsläufig verletzen. Nicht aus Abneigung, ohne Vorsatz, sondern aus Unvorsicht, aus Mangel an Alternativen,

Regel Nummer Eins: Es gibt immer einen
größeren Freak als dich.
aus Mangel an anderen Ausdrucksmöglichkeiten. Dies ist auch ein Film über Zutrauen, Vertrauen und wie diese Dinge kommen und gehen, während das Leben einen überholt. Doch es gibt mehr in "Ghost World": Der Film ist nicht nur bitterböse Satire, sondern vor allem ein Ausdruck der Trauer über das Zugrundegehen von wirklicher Kunst, wirklicher Schönheit, wirklichem Sein in einer Schattenwelt voller Geister, leerer Menschen mit leeren Leben und zu leerem Verständnis, um dieses zu bemerken.
Dies alles klingt jetzt fürchterlich traurig und deprimierend und in gewissem Sinne ist es das auch und das weiß dieser Film. Dennoch gibt es hier mehr zu lachen als in jedem "Scary Movie", "American Pie" oder was sich sonst so als Komödie deklariert. Es ist halt nur ein etwas milderes, älteres und irgendwie weiseres Lachen, das gerade so eben den Kloß im Hals überdeckt.
"Ghost World" ist auch und vor allem eine Hymne an die Außenseiter, die
Ungewöhnlichen und die Ausgestoßenen. Denn wenn auch nichts sonst, so haben diese ihre Individualität in einer Welt voller gleichgeschalteter Menschen. Dass dieser Film auf einem Comic basiert, wird nicht nur in einem köstlichen Seitenhieb aufs Korn genommen (die Auslassungen der Kunstlehrerin über die Primitivität von "low art" wie Cartoons) sondern erklärt auch diese Zuneigung zu Außenseitern, eine Qualität, die die Bildergeschichten von jeher auszeichnete. Regisseur Terry Zwigoff zeigte seine Vorliebe für sowohl Comics und "low art" als auch für aufrechte Außenseiter in einem der zwei diesem Debütspielfilm vorrausgehenden Dokumentationen über den Comiczeichner Robert Crumb ("Fritz the Cat").
Um das Maß an Sympathie, das "Ghost World" für seine Antihelden aufbringt, vollständig zu verstehen, muss man sich lediglich Steve Buscemis Charakter für einen Moment genau anschauen, in all seiner geekiness. Seymour ist Buscemi.

Der Mann, der Held, die Riesenperformance:
Steve Buscemi rockt mal wieder das Haus.
Genauso wie Thora Birch Enid ist. Enid ist die logische Fortführung von Birchs Rolle in "American Beauty" und genau wie dort lässt Thora Birchs fantastisch nuanciertes Spiel einen schwierigen Charakter zu vollständig glaubwürdigem Leben erwachen. Die grandioseste Leistung aber kommt von Steve Buscemi, dessen Seymour die Krönung sämtlicher seiner Rollen ist: hundertprozentig Buscemi und auch hundertprozentig Seymour, ein Mann und sein Charakter, schlichtweg herausragend. Die Grenzen zwischen Charakter und Schauspieler scheinen zu verschwimmen, so großartig sind die beiden Protagonisten geschrieben. Sie mögen verschroben sein und ihre Fehler haben, weiß Gott, mehr als genug von jenen, aber sie fühlen sich gerade deshalb real an. Näher ist Hollywood realistischen Charakteren, "wirklichen Menschen", selten gekommen. Wie überhaupt das eine der großartigsten Leistungen von "Ghost World" ist: Dass ausgerechnet eine Comicverfilmung mehr über menschliche Charaktere zu sagen hat als sämtliche Literaturverfilmungen oder Reissbrettgeschichten.
Wenn vor wenigen Zeilen "American Beauty" erwähnt wurde, so hat das durchaus seinen Grund, denn es drängen sich nicht nur ob der Grundstimmung und der weiblichen Hauptdarstellerin Vergleiche auf, sondern "Ghost World" kann auch durchaus mit der oscarprämierten Satire konkurrieren. Denn ähnlich wie "American Beauty" ist "Ghost World" der lustigste, traurigste, bitterste, ergreifendste und erhabenste Film seines Hollywood-Jahrgangs - in einem Jahrgang von zumeist seelenloser Unterhaltung, die so gut wie nichts zu sagen hat und zu sagen weiß. "Ghost World" ist ein Film, den man dieses Jahr einfach nicht verpassen darf, ein Geschenk, das einem noch lange nach dem Kinobesuch im Kopf herumschwirrt. Und einen daran erinnert, das vielleicht auch für sich selbst irgendwann ein Bus hält, dessen nächste Haltestelle ein besserer weil anderer Ort ist.

Zwei kurze Fußnoten:

1. Der Film wird von einem hypnotischen musikalischen Thema begleitet, das erneut an "American Beauty" gemahnt, jedoch auf seine Weise ebenso gut funktioniert.

2. Gerade Steve Buscemi-Fans sollten sich die Mühe machen, während des Abspanns sitzen zu bleiben. "If you wanna fuck with me, I show you who you're fuckin' with." Nuff said.