Rückblick auf das Filmfest München 2011

von Maximilian Schröter / 20. Juli 2011

Das Wetter spielte dabei in diesem Jahr nicht an allen Tagen mit, die Mehrzahl der Filme konnte dafür aber überzeugen. Zwischen dem in Cannes ausgezeichneten "Der Junge mit dem Fahrrad" von Luc und Jean-Pierre Dardenne und Aki Kaurismäkis Tragikomödie "Le Havre", die als Eröffnungs- bzw. Abschlussfilm gezeigt wurden, spannten der scheidende Festivalleiter Andreas Ströhl und sein Team ein Programm auf, das so gut wie keine Cineasten-Wünsche offen ließ und neben den zahlreichen Neuheiten des Internationalen Programms wie gewohnt das Kino Deutschlands, Frankreichs, Lateinamerikas und Asiens sowie den US-Independentfilm mit eigenen Reihen bedachte. Des Weiteren widmete man den diesjährigen Ehrengästen eigene, kleine Retrospektiven; so hatten die Festivalbesucher die Möglichkeit, das Werk des georgisch-französischen Filmemachers Otar Iosseliani (wieder) zu entdecken oder gleich mehrmals herauszufinden, was im Kopf von John Malkovich vor sich geht - zum einen natürlich bei der Vorführung von "Being John Malkovich", zum anderen bei einem Publikumsgespräch den Schauspieler fast hautnah zu erleben und ihm eigene Fragen zu stellen. Zu den weiteren Gästen zählten mit Tom DiCillo eine Ikone des US-Independentkinos sowie der schwedische Regisseur Roy Andersson, die es sich ebenfalls nicht nehmen ließen, die Diskussion mit ihrem Publikum zu suchen. Dem schwedischen Kino wurde dieses Jahr gleich noch eine eigene Reihe gewidmet, deren Filme den Kauf einer Eintrittskarte wirklich lohnten, konnte man doch auch hier das Kino auf eine Weise entdecken, wie es im Programm der meisten Lichtspielhäuser nur selten möglich ist. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die traditionelle Open Air-Reihe, die es den Zuschauern bei freien Eintritt in diesem Jahr ermöglichte, jeden Abend einen Film zum Thema "Katzen" zu sehen - von "Die Katze auf dem heißen Blechdach" bis hin zu "Faster, Pussycat! Kill, Kill!".

Sich aus diesem reichhaltigen Angebot von 237 Filmen ein eigenes Programm zusammen zu stellen, welches dann auch noch innerhalb der Festivallaufzeit zu bewältigen ist, ist jedes Jahr aufs Neue eine eigentlich unmögliche Aufgabe. Die Filme, die im Folgenden Erwähnung finden, stellen also eine völlig subjektive Auswahl des Autoren dar, bei der nicht nur persönliche Vorlieben und Interessen eine Rolle gespielt haben, sondern auch die Tatsache, dass es trotz anders lautender Vorsätze und massiv erhöhter Koffeinzufuhr schlicht und einfach nicht immer möglich war, um zehn Uhr morgens eine Pressevorführung zu besuchen, wenn man bereits am Tag zuvor bis spät in die Nacht einen Film nach dem anderen gesehen hat - eine Lektion, die es offenbar bei jedem Filmfest aufs Neue zu lernen gilt.

Beginnen wir unsere Reise durch die Filmwelt des Festivals mit einigen Beiträgen des Internationalen Programms. In "Hesher", dem Spielfilmdebüt des amerikanischen Regisseurs Spencer Susser, spielt Joseph Gordon-Levitt ("Inception") die titelgebende Figur: einen auf Drogen, Pornos und laute Musik stehenden Loser, der einfach in den Tag hinein lebt, ohne einen Job oder sonst irgendetwas Wichtiges zu tun zu haben. Als er eines Tages den 13-jährigen T.J. kennen lernt, zieht er einfach das in das Haus ein, in dem der Junge seit dem Tod seiner Mutter gemeinsam mit Vater und Großmutter lebt. T.J.s Vater versucht zunächst erfolglos, Hesher wieder aus dem Haus zu werfen, doch der benutzt dort Küche, Waschmaschine und Fernseher, als gehöre ihm das Haus alleine, so dass alles auf ihn Einreden nichts nützt. Gleichzeitig freundet sich die Supermarktkassiererin Nicole (Natalie Portman) mit T.J. an und wird ebenfalls in Heshers Welt hineingezogen.
Jospeh Gordon-Levitt versucht in "Hesher", den Dackelblick mal zu verbergen und den bösen Buben raushängen zu lassen, was ihm zwar gelingt, seine Figur aber trotzdem noch zur uninteressantesten des Films macht. Es mag eine zeitlang amüsant sein, ihm dabei zuzuschauen, wie er ein fremdes Haus in Beschlag nimmt und sich um keinerlei Regeln schert, leider erfährt man über ihn als Person jedoch so gut wie nichts, so dass sich diese Figur irgendwann in fortwährender Wiederholung erschöpft. Hesher dient hier eher als Katalysator, der die Nebenfiguren dazu bringt, ihr Innenleben nach außen zu tragen und sich mit ihren verdrängten Gefühlen auseinander zu setzen, was zu einer wunderschönen, zu tränen rührenden Szene gegen Ende des Films führt, den Rest davor allerdings auch nicht interessanter macht. Darüber hinaus bleibt höchstens noch Natalie Portmans herrliche 80er-Jahre-Brille in Erinnerung.

Mitreißender geht es da schon in einem weiteren Debütfilm zu; "London Boulevard" stellt die erste Regiearbeit des Drehbuchautoren William Monahan ("Departed", "Königreich der Himmel") dar und versetzt einen von den ersten Sekunden an mit seinem rockigen Soundtrack direkt in die Welt des Ex-Häftlings Mitchell (Colin Farrell), der auf der Suche nach ehrlicher Arbeit über einen Bekannten einen Job als Hausmeister und Leibwächter der berühmten Schauspielerin Charlotte (Keira Knightley) bekommt. Natürlich kommt es hier, wie es im Film kommen muss und das Verhältnis zwischen Mitchell und Charlotte bleibt kein rein berufliches. Wer jedoch eine weichgespülte Romanze à la "Bodyguard" erwartet, der wird auf jeden Fall enttäuscht, denn Mitchell Vergangenheit holt ihn in Form des Gangsterbosses Gant (Ray Winstone) ein, der auch nicht auf Mitchells Dienste verzichten möchte.

Monahans Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ken Bruen besticht durch einen äußerst cool agierenden Colin Farrell und eine schwere, düstere Atmosphäre. Keira Knightley hat dabei leider eine ziemlich undankbare Rolle abbekommen, in der sie keine eigenen Akzente setzen kann und kaum im Gedächtnis bleibt, ganz im Gegenteil übrigens zu David Thewlis, der mit zotteligen Haaren ihren ständig Pot rauchenden Manager spielt und für ein paar Lacher sorgt. Die braucht es in einem ansonsten so ernsten Film auch. Als Mitchell nach der Beerding eines Freundes um ein paar letzte Worte gebeten wird, bringt er seine Weltsicht mit einem trockenen "We're all fucked." treffsicher auf den Punkt. Der ganz große Wurf ist William Monahan mit "London Boulevard" zwar sicher nicht gelungen, dafür hat er sich einmal mehr als Meister zynischer Dialoge und zwielichtiger Gestalten erwiesen, wie auch schon mit seinen Drehbüchern zu "The Departed" und "Auftrag Rache".

Noch einmal nach London schickt einen "I Am Slave" von Gabriel Range, dessen Mockumentary "Death of a President", in der er George W. Bush filmisch ermorden ließ, vor vier Jahren auf dem Filmfest zu sehen war. Für seinen neuen Film hat er quasi den umgekehrten Weg gewählt und aus einer wahren Begebenheit einen fiktiven Film gemacht: Die im Sudan geborene Malia wird als Zwölfjährige von Menschenhändlern entführt und als Sklavin verkauft. Sie landet schließlich bei einer wohlhabenden Londoner Familie, die sie als kostenloses Hausmädchen missbraucht, ihr den Pass abnimmt und ihr verbietet, das Haus zu verlassen.
Mit der immer noch existierenden Sklaverei macht Ranges Film zweifellos auf ein ernstes und wichtiges Thema aufmerksam. Seine Handlung an sich ist jedoch zu dünn, um den Zuschauer wirklich 80 Minuten lang zu fesseln. Wäre da nicht die sehenswerte Leistung der Hauptdarstellerin Wunmi Mosaku, die Malias Schmerz und die Sehnsucht nach Freiheit und einer Rückkehr in ihre Heimat immer wieder in ihrer Mimik und ihren Augen sichtbar macht, "I Am Slave" wäre eine richtige Schlaftablette.

Ein weiterer Beitrag aus dem Internationalen Programm, der nicht völlig überzeugen konnte, ist "All That Remains", das gemeinsame Debüt der Regisseure Pierre-Adrian Irlé und Valentin Rotelli, die zusammen auch das Drehbuch geschrieben haben. Die beiden erzählen darin zwei Geschichten: Da ist zum einen die Amerikanerin Ellen (Isabelle Caillat), die in Tokio nach einer Möglichkeit such, per Anhalter die Stadt zu verlassen. Sie wird von dem älteren Nakata (Toshi Toda) mitgenommen, der soeben seine Schreibtischkarriere beendet hat, um endlich das Leben zu beginnen, von dem er immer geträumt hat. Im zweiten Handlungsstrang fährt Ben (Travis Shakespeare) die Westküste der USA entlang und trifft dabei auf Sarah (Olga Rosin), die ebenfalls auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit ist. Allmählich wird klar, dass eine Verbindung zwischen diesen weit voneinander entfernt stattfindenden Roadtrips besteht.
Ganz wie es seine Handlung nahe legt, hat der Film einige wunderschöne Landschaftsaufnahmen zu bieten. Trotz der Gespräche, die Ellen und Nakata bzw. Ben und Sarah auf ihrer Reise führen, hat man jedoch zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, den Figuren wirklich nahe zu kommen. Selbst nach einer Stunde fragt man sich noch, was und warum man mit diesen Personen fühlen soll; zu ziellos bleiben das Drehbuch und die Dialoge hier. Ganz zum Schluss, wenn klar wird, dass das alles auf eine ziemlich ernste und traurige Angelegenheit hinausläuft, ist es dann zu spät, um noch die wohl erhoffte große Rührung beim Publikum hervorzurufen. So lässt einen "All That Remains" irgendwie unbefriedigt zurück und hätte in seiner Laufzeit eindeutig mehr bewirken können.

Ähnliches könnte man auch über "The Look" sagen, eine Dokumentation, die die deutsche Regisseurin Angelina Maccarone über die britische Schauspielerin Charlotte Rampling gedreht hat. Als ein Selbstporträt der Schauspielerin durch die Sicht anderer Personen konzipiert, ist "The Look" in mehrere Episoden unterteilt, die Rampling im Gespräch mit engen Freunden und Kollegen zeigen und jeweils ein bestimmtes Thema, wie etwa Schönheit, Alter, Tod oder Tabu in den Vordergrund stellen.
Die ersten beiden Abschnitte des Films - eine Begegnung Ramplings mit dem Fotografen Peter Lindbergh und ein Gespräch mit dem Autoren Paul Auster - fördern dabei noch einige interessante Einsichten zutage und gewähren dem Zuschauer einen Blick auf die facettenreiche Persönlichkeit der Schauspielerin. Insgesamt muss kann man aber feststellen, dass eine klassische Interviewsituation größtenteils ergiebiger gewesen wäre als die zum Teil erzwungen wirkenden Themenblöcke, die einen immer wieder ganz plötzlich woanders hin reißen, so dass hier kein natürlich wirkender Fluss von einem Thema zum nächsten entsteht. Auch werden in den späteren Abschnitten die jeweiligen Themen nur noch kurz angerissen, wodurch der Film zunehmend beliebig wirkt. Am besten funktioniert er immer dann, wenn die in jeden der Abschnitte eingestreuten Filmausschnitte aus Ramplings langer Filmographie gezielt dazu dienen, das entsprechende Thema weiter zu diskutieren, was aber leider nicht immer der Fall ist.
Näher kommen konnte man der Schauspielerin da schon im Publikumsgespräch, das im Anschluss an die deutsche Premiere von "The Look" stattfand. Zwar konnte Rampling nicht alle ihr gestellten Fragen zu ihrer langjährigen Karriere beantworten. Auf die Frage, ob sie sich angesichts ihres Mitwirkens in zahlreichen französischen und internationalen Produktionen nun als britische, europäische oder ganz einfach internationale Schauspielerin sehe, kam ihre Antwort jedoch ohne Verzögerung: "Ich bin Engländerin, nicht Britin."

Das französische Kino war in diesem Jahr auf dem Filmfest unter anderem mit der inzwischen bereits in den deutschen Kinos gestarteten Tragikomödie "Kleine wahre Lügen" vertreten, einer Regiearbeit von Guillaume Canet, dessen letzter Film "Kein Sterbenswort" vor vier Jahren großen Anklang beim Münchner Publikum fand.
Mit einem Ensemble namhafter französischer Filmschauspieler (u.a. François Cluzet, Marion Cotillard) erzählt Canet dieses Mal die Geschichte einer Gruppe von Freunden, die Jahr für Jahr gemeinsam Urlaub in einem Ferienhaus am Cap Ferret machen. Doch in diesem Jahr ist alles anders: Weil mit Ludo (Jean Dujardin) einer von ihnen nach einem schweren Unfall im Krankenhaus liegt, fragt sich die Clique, ob sie ihren Freund alleine lassen und ohne ihn ans Meer fahren sollen. Doch die Zweifel währen nur kurz - natürlich wird erneut gemeinsam Urlaub gemacht, man kann ja ein paar Tage früher zurückfahren, um wieder bei Ludo zu sein. Bereits kurz nach der Ankunft am Ferienhaus wird jedoch klar, dass der Urlaub dieses Mal alles andere als fröhlich und erholsam werden wird. Neben dem schlechten Gewissen, ihren verunglückten Freund in Paris zurück gelassen zu haben, das alle Beteiligten plagt, hat jeder von ihnen noch seine persönlichen Probleme mit ins Strandhaus geschleppt, die die gemeinsame Zeit zu einer echten Zerreißprobe für die Gruppe machen.
All diese individuellen Geschichten um Ex-Freundinnen, unausgesprochene Gefühle und kleine wie größere Streitereien zu erzählen, dauert natürlich seine Zeit, in diesem Fall genau 154 Minuten. Für einen Film, der trotz ernster Untertöne als leichte Sommerkomödie daherkommt, definitiv zu lang, so dass "Kleine wahre Lügen" trotz des charmanten Darstellerensembles und der stimmungsvollen Urlaubsbilder einige Längen aufweist. Und spätestens als Canet dann zum Schluss heftig auf die Tränendrüse drückt, wird einem klar, dass man hier eigentlich nur eine Soap Opera im Kinoformat vorgesetzt bekommt. Statt der sonst üblichen "Extended Editions" wäre hier für die DVD-Auswertung ausnahmsweise mal eine kürzere Fassung angebracht, die aus "Kleine wahre Lügen" einen flotteren Film machen könnte.

Zu den Höhepunkten des diesjährigen Programms zählte dagegen ein weiterer französischer Beitrag: "American Translation" des Regie-Duos Pascal Arnold und Jean-Marc Barr erzählt die Geschichte eines jungen Serienmörders, allerdings auf eine erfrischend andere Weise, als dies schon in so vielen anderen Filmen geschehen ist.
Chris (Pierre Perrier) und Aurore (Lizzie Brocheré), beide Anfang 20, lernen sich in Paris kennen und beginnen eine leidenschaftliche Beziehung. Als Liebesnest dient ihnen eine leer stehende Wohnung von Aurores reichem, amerikanischem Vater. Alles scheint perfekt zu sein und die beiden leben einfach so dahin, ohne auch nur einen Gedanken an ein anderes, ernstes Leben zu verschwenden. Doch nach und nach lernt Aurore die andere Seite des bisher so sanftmütigen und einfühlsamen Chris kennen; immer wieder wird er eifersüchtig, grob und gewalttätig. Schließlich muss sie feststellen, dass Chris einen wesentlichen Teil seiner Identität bislang vor ihr verborgen hat: Er ist ein Serienmörder. Immer wieder tötet er, getrieben von einem inneren Drang, junge Männer und Frauen.
Der Ansatz, den die Regisseure mit "American Translation" verfolgen, ist ein anderer als man es von Serienmörderfilmen gewohnt ist. Es handelt sich nicht um einen Krimi und es stehen keine polizeilichen Ermittlungen im Vordergrund, sondern der Film behandelt allein die Geschichte von Chris und Aurore. Zudem ist er nicht bemüht, eine Entschuldigung für Chris' Verhalten zu finden, sondern zeigt den Mörder ganz einfach als jemanden, der Triebe hat, wie alle anderen Menschen auch, sie jedoch nicht kontrollieren kann und gerade dadurch aber nicht als Monster, sondern sehr menschlich erscheint.
Getragen wird der Film durch das hervorragende Spiel seiner beiden Hauptdarsteller, die gemeinsam zahlreiche extrem intime Szenen zu bewältigen haben und das gesamte emotionale Spektrum ihrer Figuren in allen Facetten glaubhaft vermitteln. Chris ist ein Getriebener, ein Süchtiger, den die Gewalt und das Morden anturnen, während Aurore, die ihm von Anfang an verfallen ist, in seine Welt hineingezogen wird, ohne dies zu wollen, aber auch ohne sich von ihm abwenden zu können. Die Morde selbst werden in "American Translation" kaum gezeigt und überhaupt widmet sich der Film seinem Thema ohne jeglichen Sensationalismus, was es dem Zuschauer ermöglicht, sich den Hauptfiguren ganz unbefangen zu nähern.

Wesentlich heiterer als bei "American Translation" ging es bei der Vorführung von "Living In Oblivion" zu. Allerdings haben es Komödien über das Filmemachen auf Filmfestivals wahrscheinlich auch immer besonders leicht, das Publikum für sich zu erobern (wie man 2007 auch bei der Vorführung der herrlichen Hollywood-Farce "For Your Consideration" erleben konnte). Tom DiCillos zweite Regiearbeit erzählt eine Film-im-Film-Geschichte und begleitet die Dreharbeiten des Regisseurs Nick Reve (Steve Buscemi als DiCillos Alter Ego) zu einem kleinen Independent-Film, bei denen so ziemlich alles schief geht, was schief gehen kann. Nicht immer ist hier jedoch sofort klar, welche Schreckensszenarien real sind und welche nur die Alpträume der Beteiligten darstellen. Am meisten beeindruckt an "Living In Oblivion", wie DiCillo es schafft, allen Mitgliedern seines schrillen Figurenensembles ihre eigenen kleinen Geschichten zu geben, so dass man am Schluss das Gefühl hat, sie alle wirklich kennen gelernt zu haben.

In der Sektion "Fokus Fernost" lief in diesem Jahr unter anderem "Guilty of Romance" von Sion Sono, in dem es quasi um eine japanische "desperate housewife" geht: Izumi (Megumi Kikuchi) ist die Frau eines berühmten, wohlhabenden Schriftstellers, doch in ihrer Ehe herrscht schon lange emotionale wie sexuelle Eintönigkeit. Also beschließt Izumi eines Tages, aus ihrem langweiligen Alltag auszubrechen und sich einen Job zu suchen. Was als harmloses Fotoshooting beginnt, entpuppt sich schnell als Pornodreh; zuerst ist Irzumi schockiert, doch allmählich lernt sie, alle Hemmungen fallen zu lassen und führt bald ein Doppelleben als brave Hausfrau und professionelle Sexdarstellerin und Prostituierte. Verknüpft wird diese Handlung mit den polizeilichen Ermittlungen um einen grausamen Mord im Rotlichtmilieu.
Sion Sone erzählt seine Geschichte in beeindruckenden, zum Teil extrem ästhetisierten Bildern und spart dabei auch die sexuellen und gewalttätigen Elemente nicht aus. Leider verzettelt er sich im Mittelteil des Films jedoch zu sehr in seiner wendungsreichen Story, eine straffere Erzählweise wäre hier angebrachter gewesen. Trotzdem darf man "Guilty of Romance" alles in allem als einen der besseren Festivalfilme bezeichnen.

Einen völlig anderen Beitrag des asiatischen Kinos lieferte der Niederländer Leonard Retel Helmrich mit seiner Dokumentation "Position Among the Stars". Nachdem Helmrich seit 2001 bereits in zwei vorhergehenden Filmen den Alltag einer in Jakarta lebenden Familie dokumentiert hatte, vervollständigt er mit diesem Film nun seine Trilogie über Indonesien und wurde dafür in Sundance sowie auf dem Dokumentarfilmfestival in Amsterdam ausgezeichnet. Völlig ohne Interviews oder den Einsatz von Voice-over begleitet Helmrich mithilfe der von ihm entwickelten "Single Shot Cinema"-Technik eine aus Vater, Mutter, Tochter und Großmutter bestehende Familie. Dabei erzeugt er eine außerordentliche Nähe zu den Personen und kreiert dank seiner beeindruckenden Kameraführung Einstellungen, die einen schon fast daran zweifeln lassen, dass hier auch alles "echt" und nichts gestellt ist.
"Position Among the Stars" ist packender als so mancher Spielfilm und schildert ganz alltägliche, zwischenmenschliche Auseinandersetzungen auf eine Weise, die einem das Gefühl gibt, selbst Zeit mit den dargestellten Personen verbracht zu haben. Wenn der von seiner alten Mutter Rumidjah als Verlierer abgestempelte Sohn das geheiligte Wasser seiner Frau als Lebensraum für die von ihm trainierten Kampffische missbraucht, mit denen er ein lukratives Wettgeschäft aufbauen will und daraufhin ein heftiger Streit entbrennt, dann mag man darüber belustigt sein oder es traurig finden, sicher ist jedoch: "Position Among the Stars" ist ein sehr bewegender Film, der einen höchst interessanten Einblick in einen uns fremden Kulturkreis vermittelt.

Tiefen Einblick in eine zwischenmenschliche Beziehung liefert auch "Oca" / "Dad" (Internationales Programm) der erste Spielfilm des Slowenen Vlado Skafar. Die Geschichte konzentriert sich hier vollkommen auf die Beziehung eines Vaters zu seinem etwa zwölfjährigen Sohn, die ohne auf Höhepunkte zu setzen erzählt wird. Die beiden verbringen zusammen einen Tag im Wald, angeln, sprechen miteinander und loten so den Status ihrer Beziehung aus, die von einiger Distanz geprägt ist, da der Junge seit der Trennung seiner Eltern bei der Mutter lebt. Ihre Gesprächsthemen drehen sich um Alltägliches, springen manchmal wirr hin und her, doch man merkt, wie gut es beiden tut, überhaupt miteinander zu reden und wie sehr sie die gemeinsame Zeit genießen. Dabei entstehen manchmal Momente voller Poesie, die dem ansonsten so schlichten Film seine Faszination verleihen. Im Laufe des Films werden die Themen dann ernster, es geht um Leben, Krankheit, Tod und zum Schluss wird die Geschichte dann noch in einen politischen Kontext eingebettet, der gar nicht notwendig gewesen wäre, um aus "Oca" einen sehr guten, zum Nachdenken anregenden Film zu machen.

Zwischenmenschliche Kommunikation steht auch in "Im Weltraum gibt es keine Gefühle" im Mittelpunkt, einem der schwedischen Beiträge zum diesjährigen Filmfest. Das Spielfilmdebüt von Andreas Öhman erzählt von Simon (Bill Skarsgård, Sohn von Stellan und Bruder von Alexander Skarsgård), der am Asperger-Syndrom leidet; er kann Berührungen anderer Menschen ebenso wenig ausstehen wie jegliche Veränderung seiner gewohnten Ordnung und tut sich allgemein schwer mit sozialen Interaktionen. Dafür hat er eine Vorliebe für alles Kreisförmige und den Weltraum. Nachdem er sein Elternhaus verlassen hat und zu seinem Bruder Sam (Martin Wallström) und dessen Freundin Frida (Sofie Hamilton) gezogen ist, schaffen sie es für eine Weile, seinen Alltag so zu regeln, dass er sich zumindest nicht wieder stunden- oder tagelang von allen anderen Menschen abgeschottet in einer Tonne versteckt. Als Frida aber mit Sam Schluss macht und auszieht, gerät Simons Alltag vollkommen aus den Fugen. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, so schließt es sein wissenschaftlich begabter Verstand, muss eine neue Freundin für Sam gefunden werden. Also startet Simon eine bis in alle Details durchdachte Suchaktion, bei der er anhand eines Fragenkatalogs die perfekt zu seinem Bruder passende Frau finden will - und macht dabei selbst eine neue Bekanntschaft.
Trockener Humor, visueller Einfallsreichtum und Darsteller, die sichtlich Spaß an der Geschichte und ihren Figuren haben, machen "Im Weltraum gibt es keine Gefühle" zu einer hervorragenden Komödie, die einen aber nicht nur zum Lachen bringt, sondern durch ihre feinfühligen Dialoge und die gekonnte Charakterzeichnung auch immer wieder dazu anregt, mit den Figuren wirklich mitzufühlen. Sätze wie "Gefühle schaffen nur Probleme", wie Simon im Film behauptet, möchte wohl jeder von Zeit zu Zeit unterschreiben und der Film zeigt auf äußerst unterhaltsame Weise, dass Gefühle das Leben zwar oft scheinbar unnötig verkomplizieren, man aber eben einfach mit ihnen klarkommen muss.
Als Simon sich als Ein-Mann-Datingagentur betätigt, muss er sogar noch einen Schritt vorher ansetzen und erst einmal herausfinden, was das überhaupt ist - Gefühle, Liebe - das für seinen Bruder seltsamerweise ein so wichtiges Kriterium bei der Auswahl einer Frau und dem Führen einer Beziehung darstellt. Also holt er sich kurzerhand sämtliche Hugh-Grant-Filme aus der Videothek - sicher kein schlechter Ansatz, wenn man heute die Wirkungsweisen der Liebe verstehen will. "Im Weltraum gibt es keine Gefühle" läuft voraussichtlich im Herbst bundesweit in den Kinos und man kann nur hoffen, dass der Film auch hierzulande den Erfolg haben wird, den er verdient.

Auch "Guerra Civil" des portugiesischen Regisseurs Pedro Caldas erzählt von einem jungen Mann mit schwach ausgeprägten sozialen Fähigkeiten, doch mit einem ganz anderen Grundtenor. Im Spätsommer 1982 steht Rui (Francisco Belard) kurz vor seinem Abschlussexamen, ist aber nur an Musik und Zeichnen interessiert. Mit seiner Mutter wechselt der Teenager kaum ein Wort und das einzige Wesen, zu dem er Körperkontakt zulässt, ist seine Ratte. Der Vater ist zurzeit nicht da - warum, weiß man zuerst nicht so genau. Die einzige Person, die Rui immer wieder aus seinem autistischen Zustand herausreißen kann, ist Joana (Maria Leite), mit der er sogar freiwillig an den Strand geht und der er ein wenig Einblick in seine Gemütsverfassung gibt.
Wo "Im Weltraum…" sich seines Themas noch über den Humor näherte und eine witzig-absurde Geschichte erzählte, zeigt "Guerra Civil" eher einen deprimierenden Ist-Zustand. Getragen wird der Film nur von der Hoffnung, dass Joana in Rui doch noch etwas bewegen, den jungen Mann vielleicht doch wieder für die Außenwelt öffnen kann. Lange Zeit scheint sich allerdings nicht viel zu tun, weniger als eine Geschichte scheint man vielmehr die Bestandsaufnahme einer Situation zu verfolgen, die für alle Beteiligten schwer zu ertragen und schwer zu ändern ist.
Genau darin stellt "Guerra Civil" Rui und die schwachen Bindungen, die er noch zu seinen Mitmenschen hat, aber sehr realistisch dar. Seine Mutter hat es längst aufgegeben, zu ihm durchdringen zu wollen und genießt lieber ihr eigenes Leben in vollen Zügen. Immer wieder spielen sich zwischen den beiden die gleichen Alltagssituationen ab, wirklich zu leben scheint Rui nur in seinen Zeichnungen und den anfangs zögerlichen Gesprächen mit Joana. "Guerra Civil" ist definitiv kein Feelgood-Movie, aber dafür ein Film, der seinen Gegenstand ehrlich und ungeschönt porträtiert und seine Zuschauer nachdenklich und auch ein wenig ratlos zurücklässt.

"Ich kam mit anderen Menschen nicht wirklich klar und tat mich auch schwer, mit ihnen zu sprechen." Dieser Satz stammt nicht aus einem der eben besprochenen Filme, sondern aus Kim Ki-Duks "Arirang". In diesem schonungslos offenen, im Mai in Cannes erstmals der Weltöffentlichkeit vorgestellten und dort mit dem Hauptpreis der Nebenreihe "Un Certain Regard" ausgezeichneten Selbstporträt schildert der vielfach preisgekrönte koreanische Regisseur das, was mit einer "Regieblockade" nur unzureichend umschrieben ist.
Nachdem er 2008 mit "Dream" seinen bislang letzten Spielfilm ablieferte (den zwölften innerhalb von zehn Jahren!), zog sich der bisherige Dauer-Filmer in eine einsame Hütte zurück, wo er monatelang abgeschieden vom Rest der Welt über sich selbst, seinen Platz in der Welt und seine Rolle als Künstler nachdachte. Ohne neues Filmprojekt und in tiefer Lethargie versunken, ist Kim aber trotzdem noch zu sehr Regisseur, um ganz ohne Kamera auszukommen: "Ich muss irgendetwas filmen, also filme ich mich selbst", erklärt er in "Arirang". Mit einer kleinen Digitalkamera dokumentiert er sein Einsiedlerdasein und schafft so eine Form der Selbsttherapie, indem er sich mit allen Fragen auseinandersetzt, die ihn quälen. Da ist der Druck, immer einen Film nach dem anderen machen zu müssen; die Hoffnung, wahrgenommen und in irgendeiner Form für seine Arbeit belohnt zu werden; die Frage der künstlerischen Integrität - will man finanziell viel versprechenden Möglichkeiten nachgehen oder sich selbst treu bleiben? - und Kims deprimierende Erkenntnis, dass sich sein bisheriges Leben mit dem Wort "Einsamkeit" am treffendsten zusammenfassen lässt.
Ebenso wie die Hauptfiguren in "Guerra Civil" und "Im Weltraum gibt es keine Gefühle" scheint sich Kim Ki-Duk aus mangelnder sozialer Kompetenz aufs Beobachten anderer Menschen konzentriert zu haben und ist so Filmregisseur geworden. Als er nach der Vorführung von "Arirang" in München gefragt wird, warum er denn die über die Jahre zu seinem Markenzeichen gewordene Mütze gar nicht mehr trage, antwortet er, die habe er eigentlich immer nur aufgehabt, um sich vor den Blicken anderer Menschen zu schützen. Dass er sie nun nicht mehr trägt, scheint zu bedeuten, dass sich in der Zeit, die in "Arirang" dokumentiert wird, tatsächlich etwas in ihm verändert hat.
Natürlich stellt sich bei einem Film, den ein Filmemacher über sich selbst gedreht hat, die Frage danach, inwieweit er hier ehrlich mit seinem Publikum umgeht und ob wir es nicht doch zumindest teilweise mit einer Inszenierung zu tun haben. Doch an "Arirang" wirkt jedenfalls nichts geschönt und die Einblicke, die der Regisseur hier gibt, sind von solch schonungsloser Offenheit und Intimität, dass man nach hundert Minuten wie erschlagen im Kinosessel sitzt. Das beweist zwar nichts, im Endeffekt ist das aber egal, weil es Kim mit "Arirang" gelingt, in einen Dialog mit seinen Zuschauern zu treten, die sich einige der Fragen, die im Film aufgeworfen werden, durchaus auch selbst stellen können.
Zum Fragenstellen bekam man dann in München auch Gelegenheit, als Kim Ki-Duk nach dem Film persönlich vor die Leinwand trat und den interessierten Zuschauern nicht nur Rede und Antwort stand, sondern auch gleich eine kleine Gesangseinlage lieferte, was den Abend dann endgültig zum Höhepunkt des Festivals machte. Die wichtigste Publikumsfrage wäre aus Zeitmangel fast nicht mehr gestellt worden: "Werden Sie denn nun weitere Filme drehen?" Die Antwort: ein klares "Ja!", daraufhin tosender Applaus und vielleicht bei dem ein oder anderen Zuschauer das Gefühl, dass es schon toll sein muss, wenn man Regisseur ist und die eigene Schaffenskrise einfach selbst wegtherapiert, indem man einen Film daraus macht. Allerdings einen, dem man in jeder Sekunde ansieht, dass nichts daran wirklich einfach war.

Damit wollen wir nun den Streifzug durch das diesjährige Programm des Filmfest Münchens beenden und uns jetzt schon auf den Sommer 2012 freuen, wenn das Filmfest unter neuer Leitung seinen 30. Geburtstag feiern und uns hoffentlich einmal mehr mit bewegenden und unterhaltsamen Filmen aus aller Welt, interessanten Gästen und vielen Sonnenstrahlen zwischen den Kinobesuchen beglücken wird.

Mehr Informationen unter www.filmfest-muenchen.de


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