Lion - der lange Weg nach Hause

Originaltitel
Lion
Jahr
2016
Laufzeit
119 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Matthias Kastl / 21. Februar 2017

Er hat es mal wieder geschafft, der gute Harvey Weinstein (“The Kings Speech“, “Silver Linings“, “Django Unchained“). Das legendäre enfant terrible der Hollywood-Produzenten ist weithin berüchtigt für seine aggressiven Oscar-Kampagnen und auch dieses Jahr hat er sich mit “Lion“ gleich sechs der begehrten Nominierungen sichern können - unter anderem für den besten Film, das beste adaptierte Drehbuch und die beste Kamera. Aber nach dem wir, mit Blick auf die tränenreiche Geschichte und das wohlkalkulierte Veröffentlichungsdatum, mal wieder den “Oscar-Bait“-Alarmknopf drücken, nehmen wir den guten Mann gleich danach wieder in Schutz und geben Entwarnung. Man muss schon wirklich ein Zyniker vor dem Herrn sein, wenn man am Ende von “Lion“ nicht mit einer Träne im Auge im Sessel sitzt, denn dieser Film ist bei aller Kalkulation eben doch einfach richtig gutes Kino geworden. 


Eine wahre Geschichte als Vorlage kann bei der Oscar-Mission natürlich nie schaden und in diesem Fall handelt der Film von dem bewegenden Leben des in Indien aufgewachsenen Saroo. Saroo wird als Kind (Sunny Pawar) bei einem Ausflug von seinem Bruder Guddu (Abhishek Bharate) getrennt und findet sich, nach einer traumatischen Zugfahrt, schließlich alleine im 1600 Kilometer entfernten Kalkutta wieder. Die Millionenmetropole ist nicht gerade der ungefährlichste Ort für den knapp fünfjährigen Jungen und so kommt es fast einem Wunder gleich, dass Saroo über Umwege schließlich in ein Flugzeug nach Australien gesteckt wird. Dort haben die kinderlosen Sue (Nicole Kidman, “Australia“, “The Others“) und John (David Wenham, “Die Päpstin“) sich nämlich bereit erklärt den Jungen zu adoptieren. Fast 20 Jahre später hat Saroo (nun gespielt von Dev Patel, “Slumdog Millionär“) sich zwar schon längst in die australische Gesellschaft integriert, und die hübsche Lucy (Rooney Mara, “Carol“) an seiner Seite, doch der Verlust seiner indischen Familie lässt ihm keine Ruhe. Mit der Hilfe weniger Erinnerungen und Google Earth macht sich Saroo auf die Suche nach seinem Heimatdorf und seiner leiblichen Familie.

Man wird sich wohl damals in der Marketing-Abteilung von Google vor Freude überschlagen haben, als man von der unglaublichen Geschichte des Saroo Brierley hörte, die dieser in seinem Buch “A long way home“ niederschrieb. Ausgerechnet die Technik des “bösen“ Google-Konzerns lässt hochemotionale Träume Wirklichkeit werden – da ließ das entsprechende "Marketing-Video" dazu natürlich nicht lange auf sich warten. Doch diese Instrumentalisierung darf und kann die Kraft der Lebensgeschichte von Saroo nicht schmälern. Das ist einfach unglaublich starker Stoff, den die Filmemacher hier zur Verfügung haben und sie wissen glücklicherweise ziemlich gut damit umzugehen.

Ein Beleg dafür ist die weise Entscheidung, den Erlebnissen des jungen Saroo gefühlt fast mehr Zeit einzuräumen als der anschließenden Geschichte rund um den nun erwachsen gewordenen Protagonisten. Angesichts der Tatsache, dass in der zweiten Hälfte des Films die ganzen klangvollen Darstellernamen warten (Kidman, Mara und Patel) ist das schon durchaus erwähnenswert. Interessanterweise ist die erste Hälfte trotz mangelndem Staraufgebot sogar die etwas stärkere, was gleich an mehreren Faktoren liegt. Zum einen natürlich an der Story, denn bei solchen traumatischen Ereignissen rund um ein kleines Kind ist man als Zuschauer natürlich generell eine leichte emotionale Beute für Filmemacher. Zum anderen können sich diese aber auch auf ihre Casting-Abteilung verlassen, die vor allem mit Sunny Pawar als jungem Saroo eine verdammt charismatische Wahl getroffen hat. Aber auch alle anderen emotionalen Knöpfe weiß der Film genau richtig zu bedienen, von der gefühlvollen Inszenierung bis hin zur wundervollen und Oscar-nominierten Filmmusik.



Viele werden sich vor allem in diesem Abschnitt immer wieder an Danny Boyles “Slumdog Millionär“ erinnert fühlen, dessen Hauptdarsteller Dev Patel ja dann später auch hier in Erscheinung tritt. Auch dort erlebt der Protagonist als etwa Fünfjähriger einen Schicksalsschlag und muss sich ohne Eltern durch das harte Leben in den indischen Slums schlagen. Ob gefährliche Zugfahrten, Misshandlungen oder skrupellose Kinderhändler - “Lion“ greift ähnliche Themen auf und manche Bilder könnten auch fast direkt aus dem berühmten Oscargewinner übernommen worden sein. Beim Look des Films gibt es ebenfalls durchaus Parallelen, denn auch bei “Lion“ wird mit viel warmen Farben eine sehr stimmungsvolle, teilweise fast magische Atmosphäre aufgebaut. Lediglich was das Tempo angeht ist “Lion“ der deutlich ruhigere Film, was seiner emotionalen Wucht in dieser ersten Hälfte aber keinen Abbruch tut. Natürlich bewegt der Film sich bei seiner Story dabei immer relativ nahe am Kitsch, überschreitet die Grenze aber lediglich nur ein einziges Mal so wirklich, als sich ein im Kinderheim angestimmtes Lied dann doch eine Spur zu manipulativ anfühlt. Alles in allem legt der Film in seiner ersten Hälfte aber ein emotional und atmosphärisch dichtes Grundgerüst bevor er dann mit einem gewaltigen Satz in die Zukunft springt.



Genau dieser Zeitsprung ist dann wohl die härteste Probe des Films für den Zuschauer. Das heiße Indien weicht dem kühlen Tasmanien, der niedliche Sunny Pawar nun einem Dev Patel im Surferlook. Das hier unweigerlich erst einmal eine emotionale Bremswirkung beim Zuschauer eintritt ist klar, denn den Charme seines kindlichen Vorgängers ohne Verlust in die Gegenwart zu transportieren ist für Patel natürlich eigentlich eine unmögliche Aufgabe. So braucht es eine deutliche Anlaufzeit bis man Patel in der Rolle akzeptiert und wieder eine emotionale Verbindung zu seiner Figur aufbaut. Auch wenn die Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller dann doch ein bisschen zuviel der Ehre ist, zeigt Patel sich angesichts der Herkulesaufgabe als durchaus gut gereifter Schauspieler. Allerdings stellt sich die Frage, ob man ihm und der Geschichte nicht einen Gefallen getan hätte, wenn man den erwachsenen Saroo bereits schon früher mit Zeitsprüngen in der Geschichte etabliert hätte. Das wäre dann zwar wieder eine Anlehnung an “Slumdog Millonär“ gewesen, hätte aber den harten Übergang zwischen den Zeitebenen deutlich sanfter und eleganter erscheinen lassen.



So kämpft “Lion“ zu Beginn der zweiten Hälfte ein wenig mit Anlaufproblemen, auch weil die von Rooney Mara gespielte Figur der Lucy nicht so recht funktionieren mag. Als Freundin von Saroo soll sie ihm eigentlich mehr Kontur verleihen, wirkt aber eher wie eine etwas gezwungen eingeführte Stichwortgeberin. Glücklicherweise gibt es aber auch noch Nicole Kidman, und mit ihr die Einführung eines interessanten Story-Strangs rund um die Adoptiveltern von Saroo. Auch da geht dann mal wieder ein dickes Lob an das Drehbuch. Man hätte es sich einfach machen können und die Probleme rund um die Adoption von Kindern aus einem anderen sozialen Umfeld und Kulturkreis nicht groß ansprechen können, aber “Lion“ widmet diesem Punkt doch ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit. Das verleiht dem Film, bei aller offensichtlicher Kalkulation als “Crowd Pleaser“, dann doch eine erfreuliche Dosis Vielschichtigkeit. In ihrer Rolle als innerlich zerrissene Mutter legt Kidman dabei die stärkste Leistung der Darstellerriege hin, ohne sich dabei aber egoistisch in den Vordergrund spielen zu müssen.



Letztendlich profitiert davon dann auch die Hauptfigur, und so ist das emotionale Band zwischen Zuschauer und Saroo rechtzeitig zum Einlauf auf die Zielgeraden wiederhergestellt. Nach der kleinen emotionalen Delle im Spannungsbogen steuert der Film so voller Elan auf ein kraftvolles Finale zu, bei dem dann wirklich kein Auge trocken bleibt. Auch hier verliert der Film nicht die tragischen Begleitumstände der Geschichte aus den Augen und es gelingt ein bittersüßes Finale, mit einer gelungenen Mischung aus Happy-End und Tragik. “Lion“ schickt den Zuschauer emotional berührt aus dem Kinosaal und so ist es dann ehrlich gesagt total egal, wer sich hier welche Hoffnungen auf einen Oscar macht oder nicht. Alles richtig gemacht, Harvey.

Bilder: Copyright

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