Zugvögel... einmal nach Inari

von Frank-Michael Helmke / 14. November 2010

Nördlich des Polarkreises, im finnischen Lappland, liegt eine endlose Wald- und Seenlandschaft, der Inari-See. Hier, im letzten Nirgendwo des europäischen Festlandes, findet der erste internationale Wettbewerb für Kursbuch-Spezialisten statt. Das sind solche Leute, die alle Zug-Fahrpläne der Welt auswendig können und in ihrem Kopf noch schnellere Reiseverbindungen zusammenstellen als jede CD-ROM der Deutschen Bahn. Einer der Teilnehmer ist Hannes Weber (Joachim Król), seines Zeichens Bierfahrer in Dortmund und ein eher simpler Geselle, der seine Zeit lieber mit internationalen Fahrplänen denn mit der süßen Maus vom Supermarkt verbringt. Auf seiner langen Bahnreise nach Inari lernt er nicht nur eine Variation höchst interessanter Individualisten kennen, sondern hat auch noch die Dortmunder Polizei auf den Fersen, da Webers Chef tot in seinem Büro aufgefunden wurde nur kurz nachdem er Hannes gefeuert hatte. So beginnt ein Wettrennen der etwas anderen Art. Denn auf der Schiene zählt nicht, wer das schnellere Auto hat, sondern wer flinker umzusteigen weiß.

Peter Lichtefelds "Zugvögel ... einmal nach Inari" ist einer der wohlbehüteten Schätze der deutschen Filmlandschaft der Neunziger, einer der wenigen Streifen, die in den Nachwehen der geistlosen Beziehungskomödien-Welle (los getreten durch "Der bewegte Mann") die Hoffnung und den Glauben an ideenreiches Kino am Leben hielten. Wie seine geistigen Wegbegleiter "Lola rennt" und "Bang Boom Bang" begeistert Lichtefelds Film vor allem durch seine Weigerung, sich formschön in eine Schublade stecken zu lassen, und den erfolgreichen Versuch, mal etwas anderes zu machen, aber dabei trotzdem typisch deutsch zu bleiben.
Typisch Deutsch-Finnisch, genau genommen, denn die Reiseroute vom tiefsten Ruhrpott ins hinterletzte Lappland ist kein Zufall, sondern spiegelt sich auch in wundervollen Details in der Mentalität des Films wieder. Eines der ersten Geräusche des Films ist die Verkehrsfunk-Erkennungsmelodie des WDR, und die Symmetrie der Mayonnaise-Tupfer und Gurkenscheiben auf Hannes' Käsebrot zeugt von urdeutscher Ordentlichkeit. Eigenarten, die der Ruhrpöttler auf dem Weg gen Norden nach und nach aufzugeben lernt - trotz des konstanten Bedürfnisses nach einem guten Bier. Denn in der Einöde Finnlands gehen die Uhren einfach ein bißchen anders (und vor allem gehen sie eine Stunde früher. Dass der Bahnexperte Weber ein solch unerfahrener Reisender ist, dass er die Zeitumstellung vergisst und so ein Frühstücksrendezvous verpasst, ist eine der sorgfältig gezeichneten Einzelheiten, die diesen Film so wundervoll machen).
Auf den Spuren der Kaurismäki-Brüder - jene finnischen Filmemacher, die die Eigenart ihres Landes in die Kinos dieser Welt exportierten - kombiniert Lichtefeld so kongenial deutsche Ordnungsattitüde mit hochnördlicher Spleenigkeit - eine stoische Ruhe trägt den gesamten Film und ein grandios trockener Humor sorgt für konstantes Schmunzeln. Und weil zu einem guten (Rail)Road-Movie natürlich auch die unverhoffte Romanze gehört, erweckt die Finnin Sirpa in Hannes ganz unerwartete Gefühle, und bringt ihm außerdem bei, dass die schnellste Verbindung nicht immer auch die beste ist. Was nicht nur zur romantischsten Szene führt, die je ein Fahrplan hervorbringen konnte, sondern "Zugvögel" auch in den Kreis der Filme erhebt, die sogar ihre eigene Lebensphilosophie mitliefern.
Die perfekte Harmonie minimaler Gesten wird selbstverständlich auch von den hervorragenden Darstellern getragen, die in ihren sorgsam ausgefeilten Rollen durch die Bank glänzen, wobei der heimliche Star des Films Peter Lohmeyer als Dortmunder Kriminalkommissar ist. Mit der Fragetechnik Columbos und den restlos leeren Augen von Inspektor Derrick (passenderweise heißen er und sein Kompagnon auch Stefan und Harry) entwickelt er sich zum Prototyp des grübelnden Ermittlers - sich so tief in den Fall reinkniend, dass er schlussendlich sogar Webers Kursbuch-Faszination teilt.

Dass Regisseur Lichtefeld ein ganz großer Finnland-Fan ist merkt man mehr als deutlich, wenn man diesen Film anguckt. Dass man nach dem Ansehen am liebsten selber gleich in den nächsten Zug Richtung Inari steigen würde, zeigt den Erfolg, mit dem Lichtefeld seine Begeisterung für die nördliche Lebensart zu transportieren versteht. Bahnfahren ist vielleicht nicht sonderlich spektakulär und eher was für Grübler, doch "Zugvögel" weiß auf sehr einfache und eindrückliche Art zu vermitteln, dass es sich durchaus lohnt, ein bißchen langsamer zu reisen und zwischendurch auch mal aus dem Fenster zu schauen. Sonst kann es nämlich passieren, dass man an der Liebe seines Lebens einfach vorbei rauscht.


Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.