Waste Land

Originaltitel
Waste Land
Jahr
2010
Laufzeit
98 min
Regie
Release Date
Bewertung
7
7/10
von Margarete Prowe / 18. Juli 2011

"Gerade wenn man sich an den Geruch gewöhnt hat, finden sie eine Leiche oder erwähnen eine Lepra-Epidemie und der Tonmann kippt um." Dies ist ein Satz aus den Produktionsnotizen zu "Waste Land" von Regisseurin Lucy Walker, einer ehemaligen DJane und mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilmerin. Walker zeigt in ihrer beeindruckenden und berührenden Dokumentation "Waste Land" eine Ecke von Rio de Janeiro, die wohl kein Tourist je aus der Nähe gesehen hat: Den Jardim Gramacho, eine der größten Müllkippen der Welt, auf der täglich 7000 Tonnen Abfall abgeladen werden. "Waste Land" wurde unter anderem produziert von Fernando Mereilles ("City of God", "Der ewige Gärtner") und wird untermalt von einem großartig passenden Soundtrack von Moby, einem Freund von Lucy Walker aus DJ-Zeiten.
Geprägt von kreisenden Vögeln, Müll-Lastern, Siff und Gestank ist der Jardim Gramacho trotzdem eine Heimat und Arbeitsstätte für viele Bewohner. Es gibt einen Begriff für die Tausenden von Menschen, die auf diesem entsetzlich anzusehenden Fleckchen Erde recyclebares Material suchen, um es weiterzuverkaufen: Catadores, die Sammler. Der bekannte brasilianische Material-Künstler Vik Muniz führt mit diesen ein Kunstprojekt durch; "Waste Land" begleitet ihn dabei über drei Jahre und wurde dieses Jahr für den Academy Award für den besten Dokumentarfilm nominiert.

Der in New York lebende Künstler Viktor Muniz wuchs auf in einer Familie der unteren Mittelschicht in Brasilien. Als junger Mann wurde er angeschossen, bekam dafür Schmerzensgeld und zog damit nach New York. Bekannt wurde er durch seine Verwendung besonderer Materialien, aus denen er Bilder nachstellte, die er wiederum fotografierte. Er nutzte hierbei nahezu alles, von Kondensstreifen eines Flugzeugs bis Schokolade, schuf eine Doppel-Mona-Lisa á la Andy Warhol aus Erdnussbutter und Marmelade und Divenbilder von Marlene Dietrich, Liz Taylor u. a. aus Diamanten ("Diamond Divas and Caviar Monsters", 2004). Besonders eine Bilder-Reihe über Kinder von Zuckerrohrplantagenarbeitern - nachgebildet aus Zucker auf dunklem Grund und dann abfotografiert - führte zu seiner internationalen Anerkennung ("Sugar Children", 1996). Doch "Pictures of Garbage" soll mehr sein als ein weiterer Zyklus einer Reihe von Bildern aus untypischen Materialien, es soll Menschen involvieren, die mit eigenen Händen seine Werke schaffen und kreative Arbeit verrichten mit dem Un-Material schlechthin: Mit Müll.
Und so sucht sich Muniz einige schillernde Gestalten, fotografiert diese in Posen der Kunstgeschichte, projiziert diese Bilder aus 22 Metern Höhe auf den Boden einer Halle und lässt die Catadores das Bild aus Recyclingmaterialien vom Jardim Gramacho ausfüllen. Die Stellen, die hierbei weiß bleiben und ohne Müll sind, bilden final die Menschen im Bild. Das fertige Werk wird dann von Muniz fotografiert, schließlich ausgestellt und versteigert, wobei die Erlöse der Vereinigung der Catadores des Jardim Gramacho zukommen.

Eine der spannendsten Fragen wird hierbei von Muniz Frau während des Films aufgeworfen: Stellt es nicht ein psychologisches Problem dar, wenn man Menschen aus der Müllkippe holt, die bislang nichts anderes gewohnt waren, sie an einem solchen Projekt mitarbeiten lässt und vielleicht noch zur Auktion der Bilder nach London fliegen lässt, um sie dann schließlich wieder in den Müll zu entlassen, wo sie ihre vorige Arbeit vielleicht jetzt ganz anders bewerten und nun wieder auf sich allein gestellt sind? Diese Frage beantwortet Muniz damit, dass es immer besser ist, etwas Besseres kennengelernt zu haben, als diese Chance nicht bekommen zu haben.
Diese Frage ist auch für einen Dokumentarfilm eine wichtige, ist es doch nicht nur der Fall, dass sich das Subjekt vor der Kamera vielleicht anders verhält als normalerweise, sondern auch, dass es während der Dreharbeiten einen anderen Blick auf sich und seine Welt gewinnt, mit dem es hinterher weiterleben werden muss - auch wenn der Alltag plötzlich anders eingeschätzt wird. Diese Frage wird in "Waste Land" zwar aufgeworfen, aber leider später stiefmütterlich behandelt. Walker sorgt hierbei sogar für zusätzliche Verwirrung des Zuschauers: Als Beispiel kann man die 18-jährige Sammlerin Suelem mit ihren beiden Kindern nehmen, von der wir am Anfang erfahren, dass der Vater ihrer Kinder ein Drogenhändler ist, auf den sie sich nicht verlassen konnte zur Versorgung ihrer Familie. Am Ende ist Suelem wieder schwanger und der Zuschauer zieht die falschen Schlüsse, die erst im Abspann korrigiert werden können und somit unnötig verwirren und ablenken.
Was hier an inhaltlicher Erklärung fehlt, ist an mancher Stelle zu viel. Gerade zu Beginn werden dem Publikum schmerzhaft gestellt wirkende Szenen zugemutet, in denen der brasilianische Muniz per Skype seinen Vor-Ort-Mann fragt, ob es gefährlich sein könnte, auf einer Müllkippe zwischen von Drogengangs kontrollierten Favelas zu drehen. Dies hätte man eleganter lösen können. Die paar holprigen Sequenzen sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich inhaltlich um ein überaus sehenswertes Thema mit passenden Bildern und außergewöhnlichen Personen handelt.

Die visuell schönsten Szenen entspringen der Umsetzung der projizierten Bilder mit Müll im Zeitraffer. Dagegen werden Bilder vom Müllsammeln auf der Kippe in Zeitlupe abgespielt, um den Zuschauer den Schmutz und das eigentümliche Chaos wirklich nahezubringen. "Waste Land" gewann seine vielen Festival-Publikumspreise auch aufgrund seines besonderen Themas: Wir alle produzieren Müll, rund um die Uhr, doch wer will schon sehen, was damit passiert? Auch die Menschen, die sich mit diesem Müll beschäftigen müssen, vergessen wir. Hier sehen wir, wie permanent, auch mitten in der Nacht, Müll abgeladen und durchsucht wird; wie Menschen fast von Müll erschlagen werden und immer wieder darin zu versinken drohen. Die Kamera lässt den Zuschauer das Geschehen sehr sinnlich erfahren, es gibt Spritzer, von oben tropft es auch mal durchs Bild, so dass das Publikum manchmal würgen muss. Und so wie man an Muniz' Bilder nah herantreten muss, um das Material zu erkennen, und dann wieder zurücktreten, um das Bild zu erkennen, so kommt auch in "Waste Land" die Kamera ganz nah an den Müll und seine Recycler heran, um dann wieder ganz weit herauszuzoomen.
Walker zeigt nicht alle Bilder und Protagonisten der Reihe "Pictures of Garbage", sondern beschränkt sich sinnvollerweise auf die schillerndsten Charaktere. Da gibt es zum Beispiel Tiaõ, den Präsidenten der Vereinigung der Sammler des Jardim Gramacho, der mal eine nasse Kopie von Macchiavellis "Il Principe" aus dem Unrat zog und daraus lernte, wie man Macht erlangt und diese ausübt, als er gerade mitten in der Gründung der Organisation steckte. Auf der anderen Seite steht die stolze Irma, die alle bekochende Mutter, die gelernte Köchin ist und nun auf einer Müllhalde einen Essensstand unterhält. Suelem hingegen ist 18, zweifache Mutter und arbeitet im Jardim, seit sie sieben Jahre alt war. In den Favelas gab es für sie nur drei Möglichkeiten, ihre Familie durchzufüttern: Drogen, Prostitution oder die Arbeit im Jardim Gramacho. Sie verdient ihr Geld auf der Halde, sieht dafür aber ihre Kinder nur alle paar Wochen.

Lucy Walker selbst bezeichnet "Waste Land" als den dritten Teil einer Trilogie von Dokumentarfilmen: in "Devil's Playground" (2002) befasste sie sich mit dem "Rumspringa" der Amish, einer Zeit, in der sich jugendliche Amish der säkularen Welt aussetzen (mit Alkohol, Drogen und Sex), während sie in "Blindsight" (2006) eine Gruppe von sechs blinden tibetischen Teenagern bei der Besteigung eines Himalaya-Gipfels zeigte. Mit ihrem guten Händchen für Stoffe gewann Walker als einziger Regisseur den Publikumspreis (Panorama) bei der Berlinale gleich zweimal (für "Waste Land" und "Blindsight"). Nach "Waste Land" wendete sich Walker in ihrem nächsten Projekt "Countdown to Zero" einer ganz anderen Art von Müll zu: Die gestiegene Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von altem Atommüll zu terroristischen Zwecken nach Ende des Kalten Krieges. Beide Filme feierten fast gleichzeitig Premiere beim Sundance Filmfestival, doch nur "Waste Land" verzauberte von dort aus das Publikum in aller Welt.

Bilder: Copyright

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