Vera Drake

Originaltitel
Vera Drake
Jahr
2004
Laufzeit
125 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
6
6/10
von Beatrice Wallis / 3. Juni 2010

London, Anfang der 50er Jahre. Die Menschen stehen noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges, Bombennächte und Erlebnisse an der Front sind noch nicht weit genug weg, um sie vergessen zu haben. Der Krieg veränderte vieles, aber die Kluft zwischen Arm und Reich besteht nach wie vor. Die Reichen hat der Krieg nicht ärmer gemacht und die Armen sind immer noch darauf angewiesen sich gegenseitig zu unterstützen.
Vera Drake (Imelda Stanton), Mutter zweier erwachsener Kinder, ist zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wird. Um Geld zu verdienen, putzt sie bei reichen Leuten, daneben versorgt sie nicht nur ihre eigene Familie, sondern auch die kranken Nachbarn. Ohne Veras Hilfe wären manche dieser Menschen verloren. Sie ist dort, wo man sie braucht, und ein Blick in ihr Gesicht verrät ihre Warmherzigkeit. Doch nicht nur den Menschen ihrer direkten Umgebung steht sie zur Seite, sondern auch vielen anderen, die in "Schwierigkeiten" stecken. Frauen mit wenig Geld, die unbeabsichtigt schwanger geworden sind. Frauen, die schon viele Kinder geboren haben, deren wahnsinnige Ehemänner zu Hause sitzen, Mädchen, die sich für Kinder noch zu jung fühlen oder unverheiratet sind. Vera Drake kommt zu ihnen nach Hause, bereitet eine Seifenlauge vor und leitet mit der Spülung die erwünschte Fehlgeburt ein. Das geschieht routiniert, Vera tut, was nötig ist.

Filmemacher Mike Leigh ("Naked", "Secrets and Lies") richtet seinen Blick auf ein moralisches Dilemma, entstanden aus der Not der Armut. Er zeigt es aus Sicht der Frauen, ohne aus "Vera Drake" einen Frauenfilm zu machen. Während sich mittellose Frauen von oft unprofessionellen "Engelmacherinnen" helfen lassen, können es sich nur reiche Frauen leisten, für sterile Abtreibungen viel Geld zu zahlen. Vera meint es gut, aber ihre medizinische Unkenntnis ist lebensgefährlich. Sie denkt nicht nach, sondern agiert pragmatisch. Für sie zählt die direkte Hilfe - von der Hand in den Mund. Ein Konflikt, den Leigh anhand einer scheinbar moralisch einwandfreien Figur aufzeigt.
Das Gesicht Imelda Stantons ist wie gemacht für die Rolle dieses Gutmenschen. Wärme und Verletzlichkeit verknüpft sie zu einer Macht, der im Film niemand widerstehen kann, auch nicht die Polizisten, die Vera wegen der illegalen Abtreibungen festnehmen. Veras Menschlichkeit und ihr unbedingter Wille zu helfen sind so tief in ihrem Wesen verwurzelt, dass auch die Beamten zu menschlichen, mitfühlenden Wesen werden. Die Liebe, die Vera und ihren Mann verbindet, unterstreicht dieses.
Und doch schleicht sich beim Sehen des Filmes der Gedanke des "zuviel" ein: zuviel Ehrbarkeit, zuviel Goodwill, zuwenig Schlechtes im Sinn. Hinter der braunen Tapetenfassade ihres harmonischen, kleinbürgerlichen Familienlebens, in dem auch der gesellschaftlich aufstrebende Sohn und die ausnehmend schüchterne Tochter ihren Platz finden, kommt nichts mehr. Es ist alles gut, eigentlich sind alle glücklich. Dagegen wirkt auch das Leben der Reichen nicht besser, und ungewollte Schwangerschaften kommen auch hier vor. Lieber arm und glücklich, als reich und unglücklich?
In seinen Kinofilmen bezieht Mike Leigh rigoros Stellung und verbirgt nicht, dass er auf der Seite der kleinen Leute steht. Die stilisierte Darstellung von Vera Drakes Familienleben macht diese Sympathie offenkundig. Man kann die Frau für naiv halten, aber man kann ihr - zumindest als Nichtbetroffener - nicht böse sein. Mehr Reibungspunkte und weniger Ebenmäßigkeiten hätten der Geschichte nicht schlecht getan.

Mit mehreren Festivalpreisen bedacht, dem Goldenen Löwen in Venedig und dem europäischen Filmpreis für Darstellerin Imelda Stanton, startet der aktuelle Film des britischen Regisseurs mit vielen Vorschusslorbeeren in deutschen Kinos. Ob die ganze Aufmerksamkeit gerechtfertigt ist, sei dahin gestellt, auf seine Art ist "Vera Drake" ein unaufgeregter Film mit exzellenten Darstellern, der bedrückt, aber nicht viele Fragen aufwirft.


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