Tierra

Originaltitel
Tierra
Land
Jahr
1996
Laufzeit
118 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Simon Staake / 28. Dezember 2010

 

Angel (Carmelo Gomez) ist ein besonderer junger Mann. Für die Außenwelt leidet er unter Schizophrenie. Er selbst weiß es besser. Er ist ein Engel. Oder besser, ein Teil von ihm ist ein Engel. Ein Teil, der ihm Ratschläge gibt, ihn ständig in Zwiegespräche verwickelt und mehr als einmal in Probleme bringt. Probleme, die ihm bei seiner Reise in eine abgelegene Weinregion Spaniens begegnen. Dort trifft er auf die schüchterne Angela (Emma Suarez), die mit dem grobschlächtigen Bauern Patricio (Nancho Novo) verheiratet ist. Angel (oder besser: ein Teil von ihm) verliebt sich in Angela. Angel (oder: der andere Teil von ihm) verliebt sich jedoch auch in die junge, heißblütige Mari (Silke), das Flittchen des Ortes, das eine Beziehung mit Patricio unterhält. Klar, dass dieser auf jeden Nebenbuhler extrem eifersüchtig reagiert. Aber um Angel herum geschehen Dinge, die keiner für möglich halten würde. Das muss nicht nur Patricio feststellen. Jedoch: Auch für Angel arbeiten die Dinge auf umschlungenen Pfaden...

Eine Inhaltsangabe kann "Tierra" nur unzureichend gerecht werden, denn zum Einen mag das jetzt nach banaler Sexposse klingen, was es nun wirklich absolut nicht ist. Zum Anderen sind hier so viele faszinierende (und absurde) Details versteckt, dass das in so komprimierter Form erst mal sehr merkwürdig klingen muss. Aber auf seine eigene verschrobene, zauberhafte, wundersame Art macht "Tierra" enorm viel Sinn und verpasst dem geneigten Zuschauer cineastische Freudenschauer. Das hat zum Großteil auch mit dem Stil von Drehbuchautor und Regisseur Julio Medem zu tun, der mit gewollter Naivität Filmlandschaften aus Sehnsucht, Leidenschaft, Melancholie, Humor und Philosophie spinnt. Die Hauptfigur etwa heißt "Engel" - und ist dann auch einer. Oder? Das Schöne dabei ist, dass "Tierra" sich nie so ganz festlegt, wie eine verführerische Frau, die plötzlich schüchtern den Schleier wieder übers Gesicht zieht. Das Ende des Films könnte Erfüllung der Sehnsüchte unseres Halbengels sein - oder einfach nur das Ende der Schizophrenie, ausgelöst durch ein Trauma. Wer weiß? Wer will es wissen? Zu diesem Zeitpunkt hat "Tierra" einen so sehr in seinen Bann gezogen, dass es einem egal ist.

Was besonders im Gedächtnis bleibt: Die im schönen Cinemascope wunderbar abgelichteten Landschaften des ländlichen Spaniens, die majestätisch und seltsam zugleich wie eine Mars-Szenerie aussehen. So was sieht man nicht im Pauschalurlaub, wenn man es denn überhaupt real irgendwo sieht. Medem gelingen Bilder faszinierender, surrealer Schönheit: Wie die Pestizid-Verteiler in ihren weißen Ganzkörperanzügen in einer Reihe über die rotbraunen Felder marschieren, wie die Kamera sich an der Stromleitung zu Maris Häuschen hinhangelt. Die absolut wunderschöne Sexszene zwischen Angel und Mari, deren Einzelheiten gleichzeitig denkwürdig und logisch sind. Schizophrenia is just a state of mind, you know. Auch für den Zuschauer.
Wem die Aussagen und Philosophie-Miniaturen in "Tierra" dubios oder gar banal vorkommen, der möge erst mal bessere Antworten finden. Und überhaupt: Wer sich, wie dieser Film, mit den ganz großen Fragen auseinandersetzt (Leben, Tod, Liebe, Sex, Bestimmung, Erinnerung, erdiger Wein), und das auf ganz und gar charmante, unprätentiöse Weise, der geht genau den richtigen Weg. Dies ist die mutige und gelungene Gratwandlung zwischen Metaphysik und Normalwelt, die "Die Entdeckung des Himmels" nicht hinbekam.

Das alles klingt jetzt ganz fürchterlich nach Kopfkino, ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil: Dies ist Sinneskino, bei dem man den erdigen Wein förmlich schmeckt, den Staub auf den trockenen Äckern fast auf den Kleidern hat. Von der fiebrigen, lustvollen Energie der Sexgöttin Mari mal ganz zu schweigen.
Ein Film von Träumern über Träumer. Ein Film über vollautomatisierte Luxustraktoren, den Rand des Universums und wahrlich vom Blitz Getroffene. Ein Film über steifgefrorene Schafe und mysteriöse Holzläuse. Ein Film über einen Halbengel auf der Suche nach menschlichem Kontakt und einer Sexgöttin auf der Suche nach Liebe.
Hach, was kann man mehr wollen?


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