Igby

Originaltitel
Igby goes down
Land
Jahr
2002
Laufzeit
97 min
Regie
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Frank-Michael Helmke / 1. Januar 2010

Im Jahr 1951 veröffentlichte J.D. Salinger seinen Roman "Der Fänger im Roggen", dessen Hauptfigur Holden Caulfield seitdem als Personifizierung des von der Welt desillusionierten Teenagers gilt. So manch tragischer Held der Literatur oder des Kinos wandelte in der Zwischenzeit in den Fußstapfen Holdens und teilte seine ziellose Frustration und Wut gegen all die heuchlerischen und leeren Menschen um ihn herum. Der neueste junge Zyniker in diesem erlesenen Verein heißt Igby, ist wie Holden Caulfield gerade wieder einmal von einer Privatschule geflogen und begibt sich nun - ebenfalls wie Holden - auf eine Odyssee durch New York, um der Begegnung mit seinen Eltern aus dem Weg zu gehen.
Nicht, dass eine Begegnung mit seinem Vater (Bill Pullman) noch viele Ergebnisse hervorbringen würde, denn der ist seit einem Nervenzusammenbruch komplett in die Schizophrenie abgetaucht und nimmt seine Umwelt nicht mehr war. Seine Mutter (Susan Sarandon) hält sich derweil mit Alkohol und Tabletten fit und kümmert sich einen feuchten Kehricht um Igby. Ähnlich einfühlsam ist sein älterer Bruder Oliver (Ryan Philippe), der angesichts seines emotional toten Elternhauses schon längst selbst auf egoistisch und arrogant umgeschaltet hat und an der Columbia University seinen Wechsel in die Berufswelt der Reichen und Mächtigen vorbereitet (eine grandiose Dialogperle wartet, als Igby seinen Bruder vorstellt: "Das ist Oliver. Er studiert Neo-Faschismus an der Columbia." Oliver (empört): "Ökonomie!" Igby zuckt mit den Schultern: "Semantik."). Einzig ein wenig Aufmerksamkeit bekommt Igby von seinem Patenonkel D.H. (Jeff Goldblum), der allerdings auch nicht sehr begeistert reagiert, als sich Igby ausgerechnet bei dessen Geliebter (Amanda Peet) einnistet. Ein nicht ganz so ernstes amouröses Abenteuer für den unerschütterlichen kleinen Stoiker, der erst durch die Begegnung mit dem Village-Girl Sookie (Claire Danes) aus der Bahn geworfen wird.

Man sucht etwas vergebens nach einer klaren Handlungslinie in dieser Inhaltsangabe, was daran liegt, dass es kaum eine gibt: "Igby" ist einer der Filme, die sich lieber um ihre schillernden Charaktere kümmern, als eine konventionelle Geschichte mit klarem Anfang, Mitte und Schluss zu erzählen. So wird man auch mit keinem Gefühl einer ordentlichen Auflösung aus dem Kino gehen und ein bisschen suchen müssen, um aus dieser beizeiten wirklich deprimierenden Parade aus alltäglichen Unmenschlichkeiten einer gefühl- und wertelosen Welt etwas Positives hinaus zu ziehen. Was nicht heißt, dass "Igby" depressiv macht: Der Kosmos des jungen Anti-Helden ist mit genug absurden Kleinigkeiten angefüllt, um eine beachtliche Schlagzahl an Lachern hervorzubringen, und der trockene Dialogwitz von Igby gerade im Umgang mit seiner Verwandtschaft ist streckenweise wahrlich eine helle Freude. Und wenn's dann doch wieder überaus ernst wird, findet sich Igby in bester Caulfield-Tradition schnell zurecht in der Rolle des Sprachrohrs aller desillusionierten Teenager dieser Welt. Sätze wie "Ich ertrinke in Arschlöchern" sprechen jedem aus dem Herzen, der sich mehr als einmal gefragt hat, ob auf diesem Planeten eigentlich noch irgendwo Menschen rumlaufen, die mehr sind als korrupte, selbstverliebte Gestalten ohne Rückgrat.
Regisseur und Autor Burr Steers ist ein gänzlich unbeschriebenes Blatt, umso erstaunlicher ist nicht nur seine Leistung hier, sondern auch die Besetzungsliste, die er für sein Erstlingswerk zusammen bekam. "Igby" ist indes einer jener kleinen Independent-Filme, die gerade durch die Andersartigkeit ihrer Figuren überzeugen, und gerade deshalb bei Schauspielern so beliebt sind, weil sie endlich einmal komplexe Charaktere mit ein bisschen mehr Substanz spielen können. Wenn so ein Drehbuch erstmal die Runde macht, werden die Stars davon angezogen wie die Motten vom Licht, und arbeiten für ein Butterbrot nur der Freude wegen, ihren Beruf mal wieder richtig ausleben zu können. Anders ist es wohl kaum zu erklären, dass sich hier eine derart illustre All-Star-Riege auf der Leinwand drängelt, die auch noch alle brav zurücktreten für den beachtlich gedeihenden Kieran Culkin in der Hauptrolle, der seinen längst vergessenen Bruder (wer erinnert sich noch an Macaulay "Kevin allein zu Haus" Culkin?) schauspielerisch weit überholt hat und hier den Grundstein zu einer interessanten Karriere legt. Mit beizeiten minimaler Gestik weiß Culkin die Resignation Igbys einzufangen und portraitiert vorsichtig dessen unterschwelligen Kampf um ein bisschen Ordnung und Moral in einer Welt, die bereits beides verloren hat, und in der man entweder überlebt, indem man zum seelenlosen Arschloch mutiert (wie sein Bruder), oder gesund zu bleiben versucht und daran zu Grunde geht (wie sein Vater).
All dies weiß Burr Steers einerseits durch seine messerscharfen Dialoge, andererseits durch seine geschickte Inszenierung einzufangen, deren beste Momente auch schweigend funktionieren: Man beachte die Szene, in der Amanda Peet und Jeff Goldblum sich in einem Restaurant treffen und miteinander Schluss machen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Ganz groß.

Man ist zugegebenermaßen ein bisschen ratlos, wenn "Igby" zu Ende ist, denn ob und was diese Soziopathen-Komödie voller durchgeknallter Gestalten einem jetzt eigentlich sagen wollte, bleibt unklar. Aber vielleicht ist gerade das Igbys Message an seine Zuschauer: Hey, ich weiß auch nicht, was das alles hier soll. Ich versuche nur durch zu kommen, ohne dabei verrückt zu werden. Viel mehr hatte Holden Caulfield auch nicht zu sagen. Und über den redet man 50 Jahre später immer noch.


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