Der freie Wille

Jahr
2006
Laufzeit
163 min
Genre
Release Date
Bewertung
6
6/10
von Patrick Wellinski / 19. Juni 2010

 

Die ersten Einstellungen sind wie eine Ohrfeige. Theo (Jürgen Vogel) vergewaltigt eine ihm unbekannte Frau. Er lauert ihr auf, reißt sie von ihrem Fahrrad, verprügelt sie und onaniert auf ihren nackten Körper. Die Bilder sind brutal direkt. Es ist eine furchtbare Eröffnung, die den Weg ebnet zur fast dreistündigen Beobachtung eines Vergewaltigers.

Theo kommt nach neun Jahren Maßregelvollzug wieder zurück in das öffentliche Leben. Er bekommt einen Job in einer Druckerei und findet mit der Zeit Gefallen an der Tochter seines Chefs, Nettie (Sabine Timotheo). Sie verliebt sich in ihn, doch Theo verschweigt ihr seine Vergangenheit. Allmählich wird ihm allerdings schnell bewusst, dass er seinen Trieb nicht kontrollieren kann. Er wird damit nicht nur zur Gefahr für Nettie, sondern auch für alle anderen Frauen in seiner Umgebung. Bald scheint ein Rückfall nur noch eine Frage der Zeit.

Bei der Berlinale schieden sich an diesem Film die Geister, und das nicht allein, weil man sich über seine gesamte Laufzeit unwohl fühlt. Die einen lobten ihn als mutiges und vielschichtiges Werk, das sich ganz behutsam einem der kontroversesten Themen des Rechtssystems nähert. Die anderen wiederum sehen in dem Film ein riskantes und letztendlich auch misslungenes Unterfangen, das Handeln eines Triebtäters zu erklären und somit nachvollziehbar zu machen. Beide Lager haben angesichts des heiklen Themas irgendwo recht, sich dem einen oder anderen Standpunkt komplett anzuschließen fällt bei tieferer Betrachtung des Films jedoch trotzdem schwer.

Ganz klar im Mittelpunkt steht bei "Der freie Will" die Leistung von Jürgen Vogel, dieses Pfund unter den deutschen Schauspielern. Er verkörpert den Vergewaltiger Theo mit einer schier unglaublichen unterdrückten Gewalttätigkeit. Man stellt sich zurecht die Frage, woher dieser Mensch diesen Drang und diese Wucht nimmt. Dann bekommt man sogar ein wenig Angst vor ihm. Vogel liefert dabei eine schauspielerische tour de force ab, für deren Realisierung er als Co-Autor und -Produzent lange und hart gekämpft hat.
Die erbarmungslos direkte Darstellung von Theo wirkt insgesamt aber doch etwas einseitig. Natürlich muss der Ex-Knacki seine überschäumende Gewaltbereitschaft mit ausgedehnten Krafttrainingseinheiten kompensieren. Ob nun Karate oder Klimmzüge, Hauptsache man lenkt sich ab, und die überschüssige sexuelle Energie wird dann rasch per Masturbation abgebaut. Dem Publikum wird dies nicht etwa nur dezent angedeutet: Die Kamera hält immer drauf und zeigt alles. Da stellt sich dann schon die Frage: Muss das sein?
Als Antipode zu Theo soll die wunderbare Sabine Timoteo dienen. Sie spielt eine einsame und zurückgenommene Frau, die zwanghaft versucht, von ihrem dominanten Vater loszukommen. Diese Einsamkeit hat sie mit Theo gemeinsam und glaubt in ihm einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Wie schon in "Gespenster" von Christian Petzold spielt Timoteo wunderbar erdig, ruhig, fast schon autistisch. Ihre Schreie, nachdem sie erfährt, dass Theo ein Vergewaltiger war beziehungsweise immer noch ist, durchzucken jeden Körper. Unglaublich beeindruckend.

Matthias Glasner hält die Stimmung seines Films konsequent bedrückt. Es wird dabei nicht klar, ob diese Sicht der Welt einzig der Wahrnehmung eines triebgesteuerten Perversen entspringen soll, oder sich dahinter auch eine Kritik an der Freizügigkeit einer Gesellschaft mit "Sex sells"-Mentalität verbirgt. Gegen diese Unklarheit nutzen nutzen auch kleine, psychologisch nachvollziehbare Akzente nicht viel, die das Drehbuch in einigen Momenten setzt. Wenn zum Beispiel Theo seinen Bewährungshelfer Sascha eines Nachts anruft und ihm gesteht, dass der Druck in ihm steigt und wohl doch nicht so ohne weiteres kontrollierbar ist, wird das Problem dieser Menschen bewusst und es wird deutlich, dass sie nicht ohne Betreuung in den Alltag entlassen werden dürfen. Diesen Punkt hätte der Film vielleicht deutlicher und direkter formulieren sollen, stattdessen verliert er sich in teilweise voyeuristischen Beobachtungen, die oftmals einfach nur gewollt eklig sind.

Man kann sich dieser Offenheit nur schwer ergeben. Deshalb gibt es wahrscheinlich viele Menschen, die sich "Der freie Wille" nicht bis zum Ende ansehen können. Zu schleppend das Tempo, zu undeutlich die Message. Gefährlich ist der Film für sein Publikum daher vor allem für die Gemütslage: ein dreistündiges, quälendes Unwohlsein muss man erst einmal verkraften.

 

Bilder: Copyright

9
9/10

absoluter wahnsinn der film. natürlich muß man in der stimmung sein, um sich das antun zu können, aber die wirkung ist dann enorm. da hat man schon einen tag lang ein ziemlich mulmiges gefühl in der magengegend.
selten sowas gutes deutschsprachiges gesehen.
sabine timoteo spielt meiner meinung nach absolute weltklasse und schafft es eine riesige emotionale wirkung zu erzielen.
die frau versteht es wirklich sympathien (beim mann) zu erzeugen. unglaublich natürlich. leider nur als schauspielerin.
im beigefügten interview kommt sie dann so affektiert und arrogant zickig rüber, daß man sie dann doch nicht so gerne persönlich kennenlernen würde ;-) sieht aber toll aus die frau. die wird noch ne riesen karriere hinlegen.
vogel auch klasse....eigentlich alle schauspieler.
nix groß zu meckern. (außer daß man sich danach scheiße fühlt..he he) großer wurf meiner meinung nach.

grüße aus berlin
++

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8
8/10

sehr mutig, sehr verstörend. respekt!
mir liegt es auch fern, andere meinungen zu beurteilen, aber noch verstörender als den film finde ich die message ganz oben. wenn man sich danach wunderbar fühlt und so einen richtig tollen feel-good abend hatte, sollte man sich untersuchen lassen.

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10
10/10

ich hab den film gestern nacht gesehen, und war eigentlich zum schlafen bereit, woran dann aber nicht zu denken war.
heute morgen hing mir er immer noch nach und ich werde sicher noch lange zeit darüber nachdenken und sprechen.
ich kann mich meinen vorrednern nur anschließen und sagen, dass dies ein meisterwerk ist.
wie glasner und natürlich die grandiose schauspielerische, authentische leistung von vogel, es immer wieder geschafft haben ein unwahrscheinlich bedrückende stimmung zu vermitteln.
ein sympatisieren mit theo und gleichzeitige abgestoßenheit, eine unendliche einsamkeit und die daraus resultierende ausweglosigkeit haben mich den ganzen film über begleitet.
von anfang bis ende ein wirklich gelungenes portrait über zwei menschen, deren leben zum scheitern verurteilt ist.
die ganze zeit das gefühl haben, " sieh dir das nicht an diesen abgrund" und nicht umschalten zu können. das gefühl hatte ich das letzte mal bei "der klavierspielerin" von jelinek.
ganz eindeudig 10 von 10 augen.

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