Bin-Jip

Originaltitel
Bin-Jip
Land
Jahr
2004
Laufzeit
88 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 17. Juni 2010

"Bin Jip" bedeutet leere Häuser - und genau die sind der bevorzugte Aufenthaltsort des Hauptcharakters im elften Film von Koreas Hochgeschwindigkeits-Filmer Kim Ki-Duk. Der brauchte nur neun Jahre, um das schöpferische Dutzend voll zu machen (sein nächster Film "Hwal" ist bereits fertig), die Arbeit an "Bin Jip" von der ersten Drehbuchzeile bis zum letzten Schnitt hat sogar angeblich nur zwei Monate gedauert. Bisher eher für harten Horrorstoff bekannt ("The Isle", "Bad Guy") zeigt sich Kim in diesem Film von seiner meditativen, romantischen, aber vor allem geheimnisvollen Seite.

Sein Protagonist Tae-suk zieht durch die Wohnviertel einer koreanischen Großstadt und klebt Pizza-Prospekte an die Wohnungstüren. Wenn die Prospekte am nächsten Tag noch da sind, kann er sicher sein, dass die Hausherren nicht da sind - und bricht ein. Stehlen allerdings tut er nichts. Stattdessen erledigt er die Wäsche und repariert kaputte Elektrogeräte - anscheinend als "Gegenleistung" für Essen, Badewasser und die Benutzung von Bett und Fernseher.
Warum er das tut? Das ist eine von vielen Fragen, auf die "Bin Jip" keine definitive Antwort liefert - nicht zuletzt deshalb, weil Tae-suk den gesamten Film über nicht ein einziges Wort sagt. Die spärlichen vorhandenen "Dialoge" werden im Anfangsdrittel größtenteils von Anrufbeantwortern bestritten, deren Ansagen Tae-suk abhört um zu erfahren, wohin die rechtmäßigen Bewohner verreist sind.
Und auch als Tae-suk eine ständige Begleiterin bekommt, bleibt das Gebot der Stille erhalten: Er bricht in ein vermeintlich leeres Haus ein und trifft dort auf Sun-hwa, die von ihrem eifersüchtigen Ehemann misshandelt und eingesperrt wird. Anstatt den Eindringling zu verraten, hält sie zur Begrüßung nur ihren Finger an die Lippen - ein einmaliges Einverständnis zur gemeinsamen Wortlosigkeit, die für den Rest des Films von den beiden nicht durchbrochen wird (erst in der allerletzten Szene wird Sun-hwa zwei Sätze sagen). Nachdem Tae-suk seine Schweige-Gefährtin aus den Klammern ihres Ehemanns befreit hat, ziehen die beiden gemeinsam durch fremde Wohnungen. Doch Sun-hwas Gatte sinnt auf Revanche für die erlittenen Demütigungen - und wird sie auch bekommen.

Wie gesagt: Bei "Bin Jip" bleiben viele Fragen offen - doch gerade das macht in diesem Falle den besonderen Reiz, die spezielle Schönheit und Einzigartigkeit des Films aus. Tae-suks offensichtliches Bestreben, sich quasi in einen Geist zu verwandeln, der zwar noch da ist, aber von niemandem (außer Sun-hwa) noch gesehen werden kann, manifestiert sich in immer poetischeren, hypnotischen Bildern - und wird doch nie mit einer klar erkennbaren Motivation versehen.
Kim Ki-Duk erzählt eine Art modernes Märchen, in dem sich zwei, die füreinander geschaffen sind, finden und alle Widerstände überwinden. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Figuren ganz Märchen-typisch moralisch rein bleiben. Dass Tae-suk faktisch immer noch ein Einbrecher ist, wiegt da gar nicht so schwer - seine überraschenden weil unerwarteten Gewaltausbrüche (ausgetragen per Beschuss mit Golfbällen) hingegen lassen unweigerlich eine ambivalente Hauptfigur entstehen, von der man letztlich nicht wirklich weiß, wie man sie einsortieren soll. Erscheint Tae-suk in manchen Szenen geradezu engelsgleich, blitzt in anderen eine bodenlose Aggression in seinen Augen auf - verstörend, aber trotzdem faszinierend.
Auch thematisch kann "Bin Jip" vieles sein: Eine rührende Liebesgeschichte, eine Parabel über den Ausbruch aus der Gesellschaft, eine melancholische Betrachtung über die Kälte im menschlichen Miteinander (jede Wohnung, in die Tae-suk und Sun-hwa eindringen, erzählt eine eigene Geschichte - und meistens sind sie traurig). Und durch das konsequente Schweigen seiner beiden Protagonisten betont Kim nicht nur, dass wahre Liebe ohne Worte auskommt, sondern auch, dass wahre Liebe auf der Leinwand das auch kann. Mit berückend eleganter Leichtigkeit führt Kim den Zwang ad absurdum, alles in Worte fassen zu müssen. Schon allein für das Meisterstück, gänzlich ohne Dialoge eine derart ergreifende und (jawohl!) tiefgängige Liebesgeschichte zu erzählen, gebührt Kim höchster Respekt und lohnt sich der Gang ins Kino.

Angesichts dieser Eigenarten von "Bin Jip" ist es fast müßig zu erwähnen, dass man mit einer konventionellen Kino-Erwartungshaltung bei diesem Film schnell an die eigenen Grenzen stößt. Mit seiner Offenheit für Interpretationen von Figuren, Motiven und Themen und seiner fast schon provokativen Wort-Armut verschließt sich "Bin Jip" aus vollster Überzeugung standardisierter Film-Erzählung und damit auch standardisiertem Film-Genuss.
Geradezu wagemutig geht Kim Ki-Duk in jeder Minute das Risiko ein, dass der Zuschauer seinen Film als selbstverliebte "Kunstkacke" abtut. Doch mit seinen magischen Bildern, der ungemein sensiblen Erzählweise, der Liebe zum Detail und nicht zuletzt mit seinem lyrischen Ende hält "Bin Jip" den gespannten Zuschauer 90 Minuten in seinem außergewöhnlichen Bann. Wahrlich: Ein Film, wie man ihn noch nicht gesehen hat.

 

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.