Britspotting 2007

von Patrick Wellinski / 2. September 2010

 

Von illegalen Existenzen und missglückten Fahrstunden - Das Britspotting-Festival 2007

Das Britspotting Filmfestival 2007 präsentiert ein beachtliches Spektrum des britischen und irischen Kinos. Nach der Premiere in Berlin Ende April gastiert das Festival noch vom 10. bis 15. Mai in München (Cinema München) und vom 17 bis zum 23 Mai in Stuttgart (im Corso International Cinema). Weitere Informationen unter www.britspotting,de

Obwohl wir am Anfang noch nicht wissen, wohin uns dieser Film führen wird, stellt sich schon in den ersten Minuten ein recht mulmiges Gefühl ein. Warum schreit eine Stimme, die für den Zuschauer körperlos bleibt, das chinesische Mädchen an? Die Kamera wackelt, während dem Mädchen die ersten Tränen über die Wangen rollen. Dann Schnitt. Aufnahmen von einem Kahn auf rauer See. Dann wieder parallel montiert die chinesischen Menschen. "Was sagst du den Engländern, wenn sie dich fragen warum du von zu Hause geflohen bist?", brüllt die Stimme zunächst zwei Männer an, um sich letztlich dem erwähnten kleinen Mädchen zu zuwenden.
Stephen Hudsons beeindruckender Debütfilm "True North", der das diesjährige Britspotting Festival in Berlin eröffnet hat, erzählt die beklemmende Geschichte einer vierköpfigen Kahnmannschaft, die an einigen gefährlichen Entscheidungen langsam zerbricht. Die Raten für den Kahn können nicht mehr gezahlt werden. Deshalb beschließt der Sohn des Kapitäns - natürlich ohne dessen Einverständnis - bei einem Aufenthalt in Belgien, Zigaretten illegal nach Schottland zu schmuggeln. Doch anstatt Zigaretten bekommt er 20 chinesische Flüchtlinge vorgesetzt. Ein Angebot, das er annimmt. 
Was "True North" so außergewöhnlich macht ist weniger die Machart, sondern dieser außerordentliche Sog, den die Geschichte nach einer Viertelstunde entwickelt. Wie in einem mächtigen Strudel beginnen sich die Ereignisse zu häufen. Der Film wird zum nervenaufreibenden Kammerspiel mit ungewissem Ausgang. Doch die Kamera, die mal wie ein Geier das Schiff auf einsamer See umkreist und dann wieder gierig, wie ein hungriger Hai den alten Kahn von unten zeigt, sie lässt nichts Gutes vermuten. Weit weg von jeglicher staatlichen Ordnung treibt diese Arche langsam gen Horizont, während sich die Menschen an Bord immer weiter ihren natürlichen Instinkten nähern und den gesunden Menschenverstand schon längst über Bord geworfen haben.
Doch selbst in diesem kammerspielartigen Szenario werden die Grundelemente des englischen Kinos für den Zuschauer sichtbar. Das Arbeitermilieu, die Probleme der Arbeiterklasse. All dies in kalte grobkörnige Bilder verpackt und vermengt mit einer Menge an sozialem Drama.

Das wirklich sehenswerte und jährlich stattfindende Filmfestival "Britspotting" hat es sich zur durchaus ehrenwerten Aufgabe gemacht, dem deutschen Kinogänger einen kleinen Einblick in die aktuellen britischen und irischen Kinoproduktionen zu geben, die es (noch) nicht auf unsere Leinwände geschafft haben. Dieses Jahr traten 18 Spiel- und 5 Dokumentarfilme im Wettbewerb gegeneinander an, um den Hauptpreis (20.000 Euro für die Postproduktion) zu gewinnen. Nebenbei gab es ganze 5 Kurzfilm- und 4 Spezialprogramme zu bewundern. Eine erstaunliche Fülle für ein "kleines" Festival. 
Und da "True North" als Eröffnungsfilm das Niveau erstaunlich hoch gelegt hatte, durfte man gespannt sein, was wohl den Rest der britischen und irischen Filmemacher heute umtreibt. Um die Antwort vielleicht schon vorweg zu nehmen: Das britische Kino bleibt seinen Traditionen treu. Die meisten Filme nehmen uns mit in die Vororte der Großstädte, wie Leeds, Manchester, Glasgow oder London. Die Arbeiterviertel bildeten schon oft das passende Umfeld für Regisseure wie Ken Loach, Mike Leigh, Michael Apted oder auch Danny Boyle auf seine ganz eigene Art und Weise in "Trainspotting". Der Fokus auf das soziale Drama des Menschen überwiegt auch im Jahr 2007 und wird nochmal durch die nicht zu verachtende Tatsache verstärkt, dass viele junge und arrivierte britische Filmemacher/innen ihre Wurzeln im Dokumentarfilm haben.

So wie Nick Broomfield in seinem herausragenden Film "Ghosts". Den Tod von zwanzig chinesischen Arbeitern, die beim Muschelnsammeln von einer Welle erfasst worden sind, nimmt er als Ausgangspunkt für seinen Spielfilm, in dem er es auf erstaunliche Weise schafft eine eindringliche Atmosphäre der Ausbeutung und der Angst zu kreieren. Broomfield erzählt von Menschen, die keinen sozialen oder rechtlichen Status haben, weil sie illegale Einwanderer sind. Sie sind Geister; zwischen den gesetzlichen Grenzen schwebend. Und ihr Tod - auch wenn er in einem solch ungeheuren Umfang geschieht - ruft bei niemandem Bestürzung hervor.
Während sich also Broomfield und Hudson mit den ungesicherten Existenzen von Migranten beschäftigen und dies in ihren Filmen als nationales Problem deklarieren, bleiben die irischen Regisseure Ronan Glennane und Nell Greenwood mitten in der kleinsten sozialen Einheit, der Familie. In ihrem Film "Pride and Joy", der aber ohne weiteres "Joy and Misery" heißen könnte, porträtieren sie den schleichenden Zerfall einer Familie so langsam und beiläufig, dass sich einem das Drama, welches hinter dieser tragischen Geschichte steht, erst nach dem Abspann offenbaren möchte. Der Film beginnt mit dem Tod der Großmutter. Vielleicht wäre sie zu retten gewesen, wenn Lorraine (Michele Forbes) von ihrem Mann Frank (Owen Roe) die versprochenen Fahrstunden erhalten hätte. Als zum Begräbnis Lorraines nach Amerika ausgewanderter Bruder auftaucht und noch die Hälfte des Hauses vererbt bekommt, versteht Frank die Welt nicht mehr und setzt sogar seine Ehe zu Lorraine aufs Spiel. Die Langsamkeit der Erzählung entgleitet den beiden Filmemachern manchmal etwas in die Belanglosigkeit, und der Vergleich der britischen Presse mit Mike Leigh ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen.

 

 

Andrea Arnolds Werk "Red Road" reiht sich ebenfalls in die klassische Tradition des britischen Kinos ein. Der wohl beste Film des Wettbewerbs lief schon letztes Jahr auf dem renommierten Cannes Festival und gewann dort den Spezial-Preis. Die Regisseurin, die schon mit ihrem tollen Kurzfilm "Wasp" den Oscar gewann, zeigt mit ihrem Langfilm-Debüt ein feines Händchen für ausgeklügelte Frauenfiguren und beweist eindrucksvoll, dass sie eine Filmemacherin ist, die man im Auge behalten sollte. 
In "Red Road" schildert sie den tristen Alltag von Jackie (Kate Dickie), die im so genannten "City Eye Control" in Glasgow arbeitet und dort vor einer großen Wand voller Monitore sitzt und öffentliche Plätze beobachtet. Später stellt sie die aufgenommen Kassetten in den Schrank, fährt nach Hause in die viel zu kleine Wohnung, lässt sich ab und zu vom lokalen Hundefänger flachlegen und sitzt am nächsten Tag wieder vor ihren Monitoren. Eines Tages fällt ihr ein Mann auf einem der Bildschirme auf, den sie zu kennen scheint. Jackie verlässt peu á peu die Sicherheit des Monitors und begibt sich immer näher an diesen Mann. Sie verfolgt ihn, spricht mit seinem Mitbewohner und man fragt sich, wie weit sie noch gehen wird. 
Dieser psychologische Thriller stellt neben dem etwas zu melodramatischen Finale eine beachtliche Reihe an politisch relevanten Fragen über den Staat als Bewachungsorgan. Doch "Red Road" sollte man vor allem für die wundervolle Kate Dickie sehen, die sich mit einer gespenstischen Ruhe immer weiter den Schatten ihrer Vergangenheit nähert und dabei immer auch etwas Selbstzerstörerisches mitschwingen lässt. Man kann nur hoffen, dass dieser Film auch in Deutschland einen Verleiher findet.

Natürlich gibt es auch Filme - und dies bewies "Britspotting" dieses Jahr wieder erstaunlich konsequent - die nicht das Genre des sozialen Dramas bedienen, sondern sich in das gutbürgerliche Milieu begeben. Dessen scheinbar heile Fassade dekonstruieren die Filmemacher allerdings offenbar mit Wonne. Ob dies nun in der etwas belanglosen Komödie "Speed-Dating" von Tony Herbert geschieht, in der ein bindungsgestörter Endzwanziger sein Gedächtnis verliert und sich dann erst von dem stinkreichen Vater, der trinkenden Mutter und der Gothic-Schwester distanziert, bevor er sein Glück mit einer Krankenschwester in einer Schwulenbar findet. Oder wenn Gregory J. Read in seinem sehr guten Horror-Thriller "Like Minds" Toni Collette als Polizeipsychologin hinter die perfiden und zum Teil auch perversen Spielchen in einem Elite-Jungeninternat führt und sie etwas spät begreifen lässt, dass hinter den gebügelten Schuluniformen und den unbeholfenen Flirtversuchen gegenüber einigen Mädchen in Wirklichkeit das pure Grauen steckt.
Die heile Welt, dass zeigen exemplarisch diese beiden Filme, gibt es in der großbürgerlichen Gesellschaft nicht. Auch in Edgar Wrights Cop-Komödie "Hot Fuzz" (siehe unsere ausführliche Rezension) entpuppt sich eine beschauliche Kleinstadt als mörderischer Sumpf voller Lügen und Betrügereien, und in Jeremy Brocks herzerwärmender Coming-of-Age-Geschichte "Driving Lessons" muss der 17-jährige Ben (Rupert Grint spielt ansonsten Harry Potters besten Freund Ron) erst auf die knapp 80-jährige extrovertierte Schauspielerin Evie (Julie Walters) treffen, um sich den Fängen seiner christlich-fundamentalen Mutter (grandios: Laura Linney) zu entziehen. Was zunächst wie eine Neuinterpretation des Klassikers "Harold und Maude" anmutet, entwickelt sich zu einer wirklich charmanten Komödie, die allen voran durch die Schauspieler bestechen kann.

Das "Britspotting"-Team hat auch dieses Jahr wieder ein glückliches Händchen bei der Filmauswahl bewiesen. Die Bandbreite der filmischen Handschriften ist enorm und bietet mehr als nur einen kleinen und kurzen Einblick in das Kino eines Landes, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Das Britspotting Festival lohnt sich vor allem, wenn man jene kraftvollen und sehenswerten Debüts wie "True North" oder "Red Road" zu sehen bekommt. Dann offenbart sich das Potenzial der neuen und jungen Filmemacher-Generation Großbritanniens, die ihren Weg in den weltweiten Kinomarkt sicherlich noch machen wird. Und "Britspotting" gibt die einzigartige Möglichkeit, dies alles jetzt schon zu erkunden und somit vielen anderen eine Nasenlänge voraus zu sein. 

Die Gewinner 2007:

Bester Kurzfilm
People in Order - Age von Lenka Clayton/James Price (3:00 min.) - 2.000 Euro post-production package sponsored by 25p Cinesupport 

Bester Spielfilm
Tick Tock Lullaby von Lisa Gornick (UK 2006, 73 min.) - 20.000 Euro post-production package sponsored by Das Werk


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